Europas Politiker scheinen von den Flüchtlingsströmen überrascht zu sein, die Filmemacher sind es hingegen nicht. Die Zunft zeigt sich in Venedig wach, auch in der Ursachenforschung. Ein Blick über die Grenzen der Menschlichkeit.
Aller Anfang war schrill: Der Mount Everest wurde euphorisch in drei Dimensionen bestiegen («Everest»). Johnny Depp wurde am Lido für seine Gangsterballade «Black Mass» bekreischt. Kreischen durfte auch Catherine Frot als Nachahmerin der Gesangskatastrophe Florence Foster Jenkins («Marguerite»). Mit viel Mainstream ist das 72. Filmfestival von Venedig lanciert worden. In der Fortsetzung kamen auch cineastische Feinkoster auf ihre Kosten. Frankreich zeigt Esprit. Deutschland überrascht. Und die Schweizer Koproduktion? Die tritt erst an, am Dienstag.
Wie weit ist der Weg vom Mensch zum Tier?
Die Filmfestspiele Venedigs finden am Strand statt. Das macht es noch schwerer, die Flüchtlingsfluten an den Stränden Südeuropas zu vergessen. Aber vergessen will hier sowieso niemand. Viele Filme schauen sogar hin. Die ersten Filme auf Ursachensuche suchen an der Grenze zwischen Mensch und Tier. Vier Beispiele, die Aufsehen erregten:
1. «Beasts Of No Nation»
Gleich zu Beginn war Venedig schockiert. In «Beasts Of No Nation» (USA) erzählte der Junge Agu mit sonorer Stimme seine Familien-Geschichte. Er berichtet, wie sein Dorf überfallen, seine Mutter von ihm getrennt und sein Vater vor seinen Augen ermordet wird. Seine Stimme ist fast gleichgültig, als er berichtet, wie er seine Haut rettet, indem er anfängt andere zu töten.
Agu zieht mit einem bewaffneten Kinderbatallion durch jene Steppe, wo seit Jahren – unter unseren Augen – Kriege geführt werden, mit modernsten Waffen (deren Export nicht zuletzt den westlichen Wohlstand ermöglicht). Agu versucht sich in diesem hochbewaffneten Dschungel durchzuschlagen.
Bilder, die Millionen von Flüchtlingen in sich tragen: «Beasts Of No Nation».
Agu kann nicht abhauen. Er kann nicht dorthin fliehen, wo der Wohlstand aus den Waffenexporten, Minen und Ölquellen bereits angekommen ist – nach Amerika oder Europa. Er bleibt in der Steppe, im Dschungel der Korruption, in den Sümpfen der Diamantenminen und Erdölfeldern. Für Agus Mutter reicht es zur Flucht. Für ihn ist es zu spät.
Cary Fukunaga ist ein Regisseur, der weiss, wie man Geschichten von Völkerwanderungen erzählt. In dem Flüchtlingsdrama «Sin Nombre» war er auf einem südamerikanischen Einwandererzug unterwegs. Die Greuel-Bilder, die Cary Fukunaga diesmal aus der afrikanischen Steppe mitbringt, sind aber nicht minder verstörend. Agu muss den Schädel eines Gegner spalten, um seinen eigenen zu retten, und tuts.
Ein Kind, das andere Kinder auf die Flucht treibt
Agu erzählt das alles so selbststverständlich, dass es wehtut. Wer seiner Kinderstimme zuhört, muss über ein dickes Trommelfell verfügen. Und über eine dicke Netzhaut.
Denn die Bilder von Cary Fukunaga sind explizit blutig. Seine Bilder sind wie Schläge mitten in die Magengrube, nicht erst, seit die Flüchtlinge, die vor solchen Bildern fliehen, bei uns eintreffen.
Kinderkrieger sind im Film zwar nicht neu. «Johnny Mad Dog», oder «Blood Diamond» haben vor Jahren schon sehen lassen, dass es in gewissen Ländern Kinderarbeiter und -soldaten, aber keine Kindergärtner gibt. In der Zwischenzeit sind neue Krieger erwachsen geworden. Bei den Jungen bleibt alles beim Alten.
Der Mensch wird zum Tier
So ist «Beasts Of No Nation» auch die Geschichte der Enkel der Kinder von damals. Sie haben gelernt, über Grausamkeiten zu reden, als seien sie selbstverständlich. Sie spielen für Warlords Krieg, so berauscht wie andere Kinder Fussball.
Cary Fukunaga spielt bewusst mit dem Genre des Kriegsfilms. Er nutzt die dokumentarische Kamera in ausführlicher Breite. Er zeigt im rhythmischen Schnitt die Rituale, bei denen Kinder mit Gewalt zu Drogen gezwungen werden.
Wird Agu dem Mann vor ihm antun, was man ihm befiehlt?
«The Beasts Of No Nation» ist über weite Strecken zu laut und wäre kaum erträglich, wäre da nicht ein umwerfender Abraham Attah, der sich für einen Goldenen Löwen als bester Kinderdarsteller empfiehlt (den es nicht gibt). Zwischen Kadavergehorsam, Ab- und Hinrichtungen berichtet er als Agu aus dem Dschungel menschlicher Abgründe. Aus seinem Mund klingen die Untaten noch verrückter – als wäre er später Nachfahre eines Urenkels des verrückten Colonel Kurtz von Marlon Brando in «Apocalypse Now».
2. «Winter on Fire»: Die Menschenwürde bröckelt
Ausser Konkurrenz öffnet in Venedig ein weiterer (Dokumentar)-Film die Augen: «Winter on Fire» des Russen Evgeny Afineevsky. Er blickt auf den Krieg in der Ukraine, in den Dschungel der Korruption rund um die Geschehnisse, die unsere Nachrichten zu Weihnachten 2013 erreichten. «Winter on Fire» stellt dokumentarisches Filmmaterial aus den Anfängen der Wirrungen zusammen.
Erst einmal wandern aber in «Winter on Fire» Millionen von Menschen friedlich in die Stadt Kiew, um ihren demokratischen Willen zu bekräftigen. Was in Würde beginnt, gerät bald in die Mühlen der lokalen Oligarchen und geopolitischen Kräfte. Über zwei Dutzend Kameramänner und Tontechniker haben die Zeugnisse gesammelt.
Evgeny Afineevsky hat dokumentarische Bilder von 93 Tagen eines friedlichen Volksmarsches, -festes, -aufstandes auf dem Maidan-Platz in Kiew zu einem Bürgerkriegsfilm montiert, der nicht nur schockiert, weil die Menschenwürde buchstäblich mit Füssen getreten wurde. Er ist packend, weil wir mit den Filmemachern mitten in die Entwicklung und Verschärfung des Geschehen hineingezogen werden, bis zum blutigen Ende.
Von Soldaten zu jung befunden: Ein Demonstrant auf dem Maidan
Bloss: Hier wird kein Kunstblut verwendet. Hier stehen die Toten nach den Dreharbeiten nicht wieder auf. Hier geht nicht die Utopie in einer Narration verloren. Hier montiert Afineevsky mit respekvollem Pathos zur Musik von Jasha Klebe seine Tagebuch-Bilder einer Revolution, die keine sein durfte. Hier wird kein Sieg der Humanité zelebriert. Afineevsky zeigt seine Skizzen so, wie einst Goya seine Bürgerkriegsbilder (bevor er mit Tausenden von Spaniern (1824!) nach Frankreich floh…)
3. «Krigen»: Wo sich die Zivilisation verteidigt
Ein dritter Film öffnet die Augen für einen Ort, wo die Flucht von Millionen ihren Anfang nahm: die Produktion des dänischen Regisseurs Tobias Lindholm. «Krigen» führt uns nach Afghanistan und – mit dem Namen – erst einmal in die Irre. «Krigen» ist nämlich kein Kriegsfilm. Er ist ein Friedensfilm. Denn die dänischen Soldaten der UN-Schutztruppen sollen Frieden sichern.
Erschwerend ist dabei, dass die Amerikaner keinen Frieden hinterlassen haben, sondern hochbewaffnete Taliban (die die USA gegen die Russen bewaffnet haben) und den hochbewaffneten Rest des Landes (den die USA gegen die Taliban bewaffnet haben). Das macht die Aufgabe der Dänen nicht einfacher..
Täglich patroulliert der dänische Offizier Claus Michale Pedersen mit seiner Truppe durch die Dörfer. «Wir geben ihnen das Gefühl, für sie hier zu sein». Dabei erfahren die Männer rasch, dass sie tatsächlich Krieg führen, und geraten in einen Konflikt.
Nun lautet die Frage nicht, wie in «The Beasts Of No Nation», wann wird der Mensch zum Tier? Oder, wie in «Winter on Fire» wann fällt die unterste Grenze zur Menschlichkeit? Die Frage in «Krigen» lautet: Darf sich die Zivilisation mit unzivilisierten Mitteln verteidigen? Darf Pedersen im Kampf gegen bestialische Menschen, bestialisch werden? Lässt sich die Menschenwürde im Krieg überhaupt mit menschenwürdigen Mitteln verteidigen?
Der Krieger kehrt in die Familie zurück
Spätestens als einer aus Pedersens Friedenstrupp von einer Mine zerfetzt wird, ahnen die Soldaten, dass Krieg nach den eigenen Gesetzen geführt werden kann.
«Krigen» ist nicht zuletzt auch ein Familienfilm. Während Pedersens Frau Maria in Dänemark dem Sohn im Kindergarten beibringt, dass man andere Kinder nicht beisst, lässt Pedersen einen Taliban abknallen, der eine Mine wegtragen will. Familienleben und Kriegsleben liegen da nur noch einen Telefonanruf voneinander entfernt. Dann erklärt derselbe Papa Pedersen seinem Sohn am Telefon, dass das mit dem Beissen keine gute Idee ist, und schickt gleichentags eine afghanische Familie in das von Taliban bedrohte Dorf zurück.
Als Pedersen am nächsten Tag in dem Dorf mit seinen Leuten selber in einen Hinterhalt gerät, muss er eine Entscheidung fällen. Beissen oder nicht beissen? Er entscheidet – und sieht sich plötzlich vor einem Kriegsgericht. Nur eine Lüge könnte ihn jetzt retten.
«Krigen» stellt die Werte einer offenen Gesellschaft, die mit Waffen missioniert, ganz subtil auf den Prüfstand. Er zieht aber auch die Trennlinie zwischen Menschenrecht und -unrecht in mehreren Abschnitten neu – und überraschend. Mit einem Mal kriegt der Krieg gegen die Menschenverächter eine weitergehende Bedeutung. Wir sind im Kriegszustand. Die Hundertausend Flüchtlinge an den Grenzen vor unseren Tür sind nur ein Symptom. Weil Grenzen von Recht und Unrecht andernorts bereits überschritten wurden.
4. «Francofonia»: Wie die Kultur überlebt
Die Mostra Venezia bleibt, neben vielen hübschen, geschmäcklerischen oder einfach nur kommerziellen Filmen, eine störrische Veranstaltung, die das Sperrige liebt. Nach dem gewaltigen, fünfstündigen chinesischen Epos «Jia» aus der Settimana della Critica war der erste Höhepunkt im Wettbewerb die deutsche Produktion «Francofonia» des Russen Alexander Sokurow. Er hat 2011 schon einmal den Goldenen Löwen erhalten und wird auch mit seinem neuen Poem enthusiastisch empfangen. Mit «Francofonia» liefert er in diesem Jahr einen flammenden «Canto General», einen Appell für die Erhaltung der Kultur, den er ausgerechnet aus Bildern einer Epoche zusammensetzt, in der die Barbarei schon einmal fast Europa und seine Bilderkunst vernichtet hätte: die Zeit des deutschen Freizeitmalers und Führers.
Kultur vor den Barbaren bewahren
Wie eine Fussnote zu allen wirkt da Sergej Losnitsas «Sobytie», ebenfalls ein Dokumentarfilm, der ähnlich wie «Winter on Fire» den geglückten Aufmarsch der Millionen in Petersburg gegen einen Putschversuch gegen die Perestrojka zeigt. Dort glückt der Widerstand und macht Hoffnung. Demokratie kann auch friedlich verteidigt werden – und vom Volk ausgehen.