Filmtage Solothurn: Ganz die Schweiz

Wer wissen will, wie es in der Schweiz heute aussieht, der kann unser Land derzeit im Sitzen und im Dunkeln bereisen. Die Filmtage in Solothurn liefern einen Bericht zur Lage der Nation. Für Gruppenreisende bieten Filmfestivals jene herrliche Aufgeregtheit, ohne die Urlaub kaum mehr denkbar ist. Man bewegt sich in Massen. Man steht Schlange. Man […]

Run auf Schweizer Filme: An den 48. Solothurner Filmtagen.

Wer wissen will, wie es in der Schweiz heute aussieht, der kann unser Land derzeit im Sitzen und im Dunkeln bereisen. Die Filmtage in Solothurn liefern einen Bericht zur Lage der Nation.

Für Gruppenreisende bieten Filmfestivals jene herrliche Aufgeregtheit, ohne die Urlaub kaum mehr denkbar ist. Man bewegt sich in Massen. Man steht Schlange. Man reserviert die besten Plätze. Man sucht sich sich die Perlen Wochen vorher aus. Dann kann man langsam anfangen Angst zu haben, man habe das Schönste verpasst.

Filmfestivals bieten aber auch den Individualreisenden jede Form von Improvisation von Stille: Sie können sich überraschen lassen. Sie können auch mal einen Ausflug wagen, von dem sie nicht einmal wissen, wohin er geht. Eine Fahrt ins Dunkelblaue! Sollen die da vorne lichtspielen! Man kann immer noch rauslaufen, wenn man sich verfahren hat.

Wer gut plant, findet rasch eine geeignete Reiseroute durch den Schweizer Film. Diese führt nicht durch den Kulturwechsel in der Finanzindustrie oder den Übergang zur grossurbanen Stadt Mittelland. Nein, wer mit Plan reisen will, wird auf das Familiäre verwiesen. Dort, im Bereich der wackeligen Beziehungsdefinitionen, bewegt sich die Mehrzahl der Filme. Solothurn bietet eine Rundreise im Generationenvertrag.

Erst darf man in «Tutto parla di te» die Verzweiflung von Müttern besichtigen, die gar nicht mehr klar kommen, ja, die eine denkt schon daran, das Kind auch einfach mal irgendwo stehen zu lassen. Um uns zu beweisen, dass der Generationenvertrag ausläuft, bringt in «Nachtlärm» dann ein Kind seine Eltern um den Schlaf. Die bringen wiederum ein Paar, das das Kind entführt hat um denselben.

Will man das Ende des Generationenvertrages auf eigene Faust bereisen, kann man dies in Bettina Oberlis «Déposer les enfants» tun. Da sieht man, wie das geht, wenn man Rousseau nicht beim Wort, sondern bei seiner Tat nimmt: Man schickt die Kinder einfach, wie der grosse Natur-Erziehungs-Theoretiker es auch tat: in die (grosse) Babyklappe. Erst als er seine Kinder in einem Heim abgegeben hatte, konnte er in Ruhe schreiben. Dann sieht der Generationenvertrag gleich wieder ganz anders aus. 

Klar, dass derart diagnostizierte Defekte im Generationenvertrag auch an den Kinderbildern nicht spurlos vorbeigehen: In «Cyanure» reift der 14-jährige Achilles zu einem Vatermörder heran. Die überraschende Konsequenz, die der Junge aus der Patchwork-Misère zieht, in der er von seinem Heldenvaterbild Abschied nehmen muss, ist, dass er dem Vater dessen Wunsch erfüllt, nicht mehr weiter leben zu müssen.

In «Draussen ist Sommer» zieht ein Mädchen einen ähnlichen Schluss. Es taucht ganz leise – aber um so eindrücklicher – aus dem zerbrechenden Elternhaus in seine eigene, isolierte Liebesgeschichte ein, bis es fast darin umkommt. In «Clara und das Geheimnis der Bären» flüchtet sich ein standhaftes Mädchen gar in eine kleine Fantasy-Katastrophe, verhindert damit aber immerhin den Bruch im Elternhaus. 

Was erfährt man nun von den Jugendlichen, die sich aus dem seelischen Prekariat der Elternhäuser zu retten versuchen: In «Halb so Wild» zerfleischt sich eine jugendlich spontane Reisegruppe gleich selbst mit ihren Liebesträumen, während in «Boys are us» die Teenies mit sich spielen, als hätten sie weder Zukunft noch Vergangenheit, sondern nur noch ein Touchpad im Kopf. Während die Elterngeneration bereits die Ersparnisse der übernächsten Generation verpulvert, dürfen Kinder nicht mehr Kinder sein, sondern sie sind Projekte der Eltern. Jan, der Sohn in «Jan», ist so ein Projekt, und soll immerhin Weltspitze werden.

Am Ende der Reise kehren die Erwachsenen Kinder unerwartet wieder in die versehrten Elternhäuser zurück: In Marcel Gislers «Rosie» darf ein Schriftsteller ein wenig die Vergangenheit seiner unglücklichen Mutter aufarbeiten. In «Verliebte Feinde» zerbricht das Paar Iris und Peter von Roten mit seinem Ehevertrag fast an der spiessigen Gesellschaft.

Damit wäre der Bogen beinahe geschlossen, wenn uns nicht auf unserer Reise noch ein wenig die romantische Schweiz gefehlt hätte – Markus Welter liefert sie uns: In «Das Alte Haus» wird (hinreissend gespielt vom soeben ausgezeichneten Herbert Leiser) ein alleinstehender alter Mann (eben: ein altes Haus) abgerissen. Da ist die plötzliche «Einsamkeit des Konrad Steiner» wieder. Doch, was vor Jahrzehnten noch Schweizerische Sozialromantik war, ist hier nur noch Romantik: Spekulation wird zwar beim Namen genannt. Aber sie provoziert keinen Aufstand. Sie wird in heutig gut schweizerischer Art unter den Teppich gewischt: Wenn es so etwas wie Spekulation in unserem Land gibt, dann hat man eine gute Freundin, die den Spekulanten kennt und da was mischeln kann.

Bei Gruppenreisen dürfen aber auch die obligaten Schweiz-Kulissen nicht fehlen. Marcel Gisler sieht in «Rosie» die Schweiz, wenn er draussen ist, hauptsächlich aus dem Auto, mit Blick auf die vierspurige Fahrbahn. In «Clara und das Geheimnis der Bären» darf man dafür neben einem Problembär auch ordentlich viel Bergmystik erfahren. Die Rückseite der Medaille hat uns Ursula Meier schon in «L’enfant d’en haut» präsentiert. Während in «Mein Erster Berg» von Erich Langjahr die volle Dröhnung angeboten wird: Da ist Berg noch Berg und wer diesen Berg nicht gesehen hat, der sollte sich auch nicht in das tiefe Rauschen von «The End of Time», in die unterirdischen Gänge des Cern locken lassen. 

Wer nun die ganze Rundreise durch die Schweiz in ein paar Stichworten festhalten will, kann zurückgekehrt erzählen, dass die Schweiz sich grosse Sorgen um den Verlust des Generationenkontraktes macht. Dass die Zersiedelung der elterlichen Seelen ordentlich fortgeschritten ist. Dass aber das Prekariat sich kaum zu Wort meldet. Das Bild der Schweiz bleibt farbenreich. Aber Anzeichen eines sozialen Dissens sind kaum auszumachen. Gleich mehrfach haben sich Dokumentarfilmer den Tieren verschreiben.

Wer spontan und individuell durch die Schweiz reisen will, darf sich mit «Image Problem» erst einmal auf eine Fragereise machen. Wie die Schweizer die Schweiz eigentlich selber sehen, sehen möchten, oder gar gesehen haben wollen, das haben die beiden bauernschlauen Simon Baumann und Andreas Pfiffner angestellt. Sie bereisen erst die Schweiz und anschliessend die umliegenden Länder mit der hintersinnigen Frage, wie sie denn den Film machen sollen, damit die Schweiz irgendwie gut wegkommt: Dass sie sogar ein wenig von dem Flucht-Geld in den Nachbarländern an Passanten zurückgeben, schafft sicher überall Goodwill, auch für uns Individualreisende.

Auf der diesjährigen Reise durch die Schweiz kaum anzutreffen war ansonsten der grösste Paradigma-Wechsel in der Schweizer Finanzindustrie, die pro Jahr circa 5000 Arbeitsplätze abschafft sowie in diversen Ländern rund 1,5 Mia Franken pro Jahr an Bussen für illegale Machenschaften bezahlt. Sie findet kaum Erwähnung im Bild der fiktiven Schweiz. Da lassen wir uns dann gerne von den Dokumentaristen herumführen.

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