Jetzt geht die Wanderung los, an moosbewachsenen, flechtenbewehrten Bäumen vorbei und eine Gemeinde-Krankenschwester erzählt von Nessie.
Bin schön ins Dämmern und in den Schlaf gerutscht, muss heftig vom Regen geträumt haben und hatte dabei immer das Geräusch von klatschenden Tropfen im Ohr, die irgendwo an der Dachtraufe hängenblieben, sich festgehalten haben und doch runtergefallen sind. Hinter dem Vorhang der graue, graue Himmel, die nasse Strasse, die tiefen Wolken. Immerhin: noch im Bett. Distanziert und freundlich dann das Frühstück, ausweichende Aussagen der Vermieterin zu den Wetterprognosen und dann meine ehrliche Antwort auf die Frage, wohin ich wandern wolle: Sizilien. Die steife Frau brach in unbeherrschtes Lachen aus. Ich werde vorläufig niemandem mehr von meinen Plänen erzählen.
Erledigte noch ein paar Dinge, Schlange stehen auf der Post, Bluewin-Support telefonieren und Mail-Account einrichten, Zeit hinauszögern, den Menschen zuschauen, die ohne Schirm und Mütze von einem Ort zum anderen schlendern. Der Regen stört hier nicht, macht den Ort aber auch nicht besonders schön. Männer pfeifen manchmal Liedchen, einer spielt Saxophon.
Es ist zufällig genau Mittag, als ich losziehe. Ich weiss nur: dem Fluss entlang. Er kommt vom Loch Ness und dorthin will ich. Ein Halbwüchsiger kommt entgegen, fragt, ob ich Autostopp machen will und verwirft entsetzt die Hände, als ich sage: Fort Augustus, zu Fuss. Hätte ihm vielleicht doch Sizilien sagen sollen, er wäre kaum entsetzter gewesen. Dann ein kleiner Weg dem Fluss entlang, er hört plötzlich auf, muss über ein Wehr klettern, dann durch einen Privatgarten.
Der Strasse entlang. Durch ein Einfamilienhausquartier, das sich im Stadtrand verliert. Ausfallstrasse, wenig Verkehr, irgendwo wird ein neuer Kreisel gebaut – sind nun in ganz Europa Mode, diese Kreisel. Hierzulande halt im Uhrzeigersinn. Ein Wäldchen, feucht, der Rucksack drückt, presst die Hüften zusammen. Die sind das nicht gewohnt. Und das vier Monate lang?
Eine Stunde lang auf einer Teerstrasse, zum Glück bin ich allein. Jede Begleiterin, jeder Begleiter würde Fragen stellen, schimpfen – würde grantig auf solchem Weg – nichts von Idylle. Dann eine Abzweigung. Ein Feldweg, hinauf zum Wald. Ich mache einen ersten Stundenhalt, trinke einen Schluck Tee, den ich im B&B-Zimmer abgefüllt habe. Der Weg ist sumpfig, geht zum Wald hinauf – aber immerhin keine Teerstrasse. Die Landschaft erinnert mich ein bisschen an Elsass-Wanderungen.
Selbst Birken knarren hier im Wind
Und unvermittelt drückt der Hüftgurt nicht mehr so stark, der Weg biegt in einen Wald ein, leicht ansteigend, plötzlich kein Gedanke mehr ans Elsass. Die Flechten- und Moosbärte sind es, die an Birken, Lärchen, sogar an hölzernen Zaunpfählen hängen. Wie Augenbrauen alter Männer, verstaubte Bärte längst verstorbener Greise, die aus Märchenbuch-Bildern gucken. Oder in Grotten Schimmel angesetzt haben. Eine Sagenwelt plötzlich und bemooste Baumstrünke, die Figuren werden sich beim Vorbeigehen verändern, sich in andere Gestalten wandeln. Selbst Birken knarren hier im Wind. Wenn es heftig regnet und windet, ziehe ich die Kapuze über, das Blickfeld wird enger, die Figuren noch spannender, ich muss geschäftig herumblicken, um alles zu sehen.
Tiefe Pfützen, Lachen im Feldweg, der schwarze Torf ist trittfester, als ich geglaubt habe. Ich wähne mich auf einer Juraweise, ein riesiger Ginsterhain von blühendem Gelb verscheucht diesen Eindruck, dann plötzlich ein Rauschen – Wasser sammelt sich und stürzt in eine riesige Schlucht, dem Loch Ness entgegen.
Immer aufwärts, eine Teerstrasse kreuzt meinen Weg, ich weiss, ich muss ihr entlang. Sie macht viele Kurven, eine Abkürzung würde sich lohnen, aber quer durchs Moor, das ist wohl unsinnig. Zweige wieder auf einen Feldweg, Moorhühner fliegen kreischend weg, wenig Meter vor mir trinken Rehe aus einer Pfütze. Sie hören, sie sehen mich nicht, erst vom Geräusch des Reissverschlusses (um den Fotoapparat herauszunehmen) erschrecken sie und eilen davon. Und immer wieder der Blick auf das Loch Ness.
Auf der Hochebene das Loch na Curra. Wenig Kilometer von Inverness entfernt. Die Vegetation hier ist noch in tiefem Schlaf. Sogar die Flechtenbärte scheinen tot.
Eine Abzweigung mit Wegweiser. Zehn Meilen bis Inverness, sieben bis Errogie. Dort, scheint mir, müsste B&B zu finden sein. Drei Stunden gewandert, noch zwei vor mir. Ein neues Loch: Ceo Gleis. Der Rucksack erträglich – von weitem leuchtet ein Haus. Es scheint mir, ein Schriftzug sei an der Wand. Ein kleines Hotel, eine Pension, eine Beiz wenigstens? Nein, ganz abgelegen wohnt da eine Familie mit Kindern. Gehe weiter, Schäfer grüssen, die Schafe rennen davon, die meisten mit jungen Lämmern. Es gibt nicht mehr viel zu denken, zu sinnieren, die Knochen melden sich. Abzweigungen, Schäfer, Schafe, selten Autos.
Kurz vor Errogie nochmals ein Feldweg. Die schwere Erde lähmt, muss nochmals aufwärts, an zerfallenen Häusern vorbei – hier wär gut zu übernachten, wenn ich mit Proviant ausgerüstet wäre, Benzin für den Kocher hätte, ein guter Ort. Ich gehe hinunter nach Errogie, sehe endlich die Häuser, halte angestrengt Ausschau nach B&B. Nichts. Nicht mal Menschen hier.
Am Ende des Dorfes fährt eine Frau ihr Auto in die Garage. Ich spreche sie an. Erst erschrickt sie, erklärt dann, sie sei die Dorfschullehrerin und wird dann aber ganz geschwätzig. Nein, B&B gebe es hier nicht, aber im nächsten Dorf, drei Meilen, das heisst fünf Kilometer entfernt, vielleicht. Sie telefoniert, doch da ist nur der Telefonbeantworter. Sie ruft die Nachbarin, die sich auch erkundigen will. Und bis die Antwort kommt, reden wir über Schule und den Schnee, der noch auf den Bergen ist und den Schnee, der im Winter bis nach Errogie hinunter gefallen sei und immer wieder schulfreie Tage geschenkt habe.
Und dann fährt die Nachbarin in einem kleinen Wagen vor, bittet mich einzusteigen, denn das Hotel, das sie kenne und das als einziges in der Umgebung Gäste aufnehme, sei neun Meilen weit weg. Ist natürlich nicht ganz nach Plan; aber fünfzehn Kilometer mag ich nicht mehr zu Fuss gehen – das heisst, die Füsse würden wohl kaum mögen. Und die kurze Fahrt lohnt sich.
Nessie, das Ungeheuer
Die Frau, fünfzig, Gemeindeschwester, voll bei Sinnen und sehr nett, erklärt mir auf meine leicht ironische Bemerkung zum Ungeheuer von Loch Ness, dass es sehr wohl existiere. Sie selbst habe es gesehen, vor fünfzehn Jahren. Sie habe mit einer Kollegin einen Touristen pflegen müssen, neunzehnsiebenundachtzig im Mai. Der sei schwer krank im Campingwagen gelegen. Und als sie mal ans andere Ufer geschaut habe, sei Nessie drüben kurz aufgetaucht – sie habe es zum ersten Mal gesehen, aber die schwerfällig schlängelnden Bewegungen habe sie sofort erkannt, und am Hals habe es diesen aufrecht stehenden Kamm gehabt.
Das Whitebridge Hotel in Stratheberrick hat vielleicht einmal bessere Zeiten gesehen, oder vielleicht hat man im Übermut und mit etwas waghalsigen Prognosen über künftiges, touristisches Aufkommen einfach etwas zu üppig geplant. Sehr schön gelegen, sehr verwinkelte Gänge und Zimmer, trauter Holzbau, und auf dem Boden überall dicke Teppiche. Wollte die Schuhe ausziehen, aber die Wirtin hielt mich davon ab – es sei ein Touristenhotel. Sie gab mir ein Zimmer mit Bad und brachte die Speisekarte aufs Zimmer.
Ich war der einzige Gast im Speisesaal, etwas Unterhaltung mit der Wirtin, die mir Lammkotelett brachte, Gemüse dazu und Kroketten. Aus irgend einem Grund servierte sie in einer Silberschüssel auch noch Gschwellti.
Der Schnee auf den Bergen ringsum sei Lamm-Schnee, sagte sie. Wenn Ende April die Lämmer geboren würden, schneie es oft nochmals.
In der Bar sassen ein halbes Dutzend Einheimische. Der Sohn, geistig behindert und sehr zuvorkommend, schenkt Bier aus. Im Sommer dürfte es einige Gäste haben, im Winter bläst der Wind hier wohl um ein sehr einsames Haus.