Karin Henkel serviert in Frankfurt Wildente. Das macht neugierig auf ihre Zürcher Arbeit: Im Januar folgt am Schauspielhaus „Geschichten aus dem Wiener Wald“.
(Bild: Hansjörg Betschart)
Selten ist eine Theateraufführung so dicht wie ein Film. In der „Wildente“ in Frankfurt ist sogar der Nebel dicht. Kaum geht der Vorhang hoch, zieht ein Mädchen am Schlepp-Tau ein Gewalts-Schiff aus der Nebelwand – auf uns zu. Ein Liebesschiff? Auf seinem Dach leuchtet ein herzförmiger Kirmes-Radar. An der Rampe angekommen, fängt das Schiff an, sich zu drehen, und wie im Karussell laufen nun rasante Film-Bilder an uns vorbei vom Stapel: Eine Mutter, die mit der Tochter hungernd auf den Vater wartet. Ein Hausfreund, der in der Luxusklasse eigenartige Herablassung erfährt. Eine herrschende Gesellschaft, die sich selbst im Luxusbereich feiert und in ihrem Fumoir so viel raucht, dass die ganze Welt im Nebeldunst verschwimmt.
Schafft die Heimkehrerin da Klarsicht? Was hat sich hier in ihrer Abwesenheit ereignet? Warum muss das Kind, das den Luxusdampfer bis hierher gezogen hat, die ganze Last alleine ziehen?
Was die Regisseurin Karin Henkel in expressionistischen Hüllen anrichtet, nimmt seinen Ausgangspunkt auf der Opernbühne. Das will erst einmal nicht mit Ibsens feiner Menschenschilderung einher gehen. Der Text wird gebrüllt, wiederholt, mehrstimmig gesungen. Als müssten wir nicht nur von diesen Menschen etwas erfahren sondern von der Menschheit. Je länger der Abend, desto mehr setzt sich so das Zerrissene wieder zusammen, desto deutlicher schälen sich die Menschenfiguren heraus: Verspielt werden die Bedeutungsebenen des Raumes, des Textes und selbst der Figuren miteinander verbunden, und nie aus Jux, immer aus innerer Not des Textes. Wir trippeln im Komödienschritt auf das Ende zu: Ehe wir’s versehen, kracht der Tragödienknaller.
Immer wieder überrascht der Beziehungsreichtum, den der Text anbietet, und den die Inszenierung in allen Facetten nutzt, benützt und manchmal auch etwas dick deutet. Da darf auch einmal ein Kalauer herhalten, wenn nach dem väterlichen „Halt die Klappe“ das Kind tatsächlich die Klappe festhält, jene zum Dachboden. Aber da werden auch andere textimmanente Fäden gesponnen: Bei Ibsen ist Gregers Werle ein Mann. Ein Moralist. Ein Wahrheitsschwärmer. Er nimmt seinem Jugendfreund dessen Lebenslügen und stürzt die Familien ins bodenlose Elend der Wahrheit – seiner egoistischen Wahrheit. Was in Ibsens Tagen ein komödiantisches Ideendrama war, ist in Frankfurt mehr, und mehr noch in Henkels Sicht: Sie macht aus Gregers eine Frau, und lässt dessen Mutter von einem Mann spielen. Das verleiht dem Stück eine neu gesehene Verknüpfung der Ebenen, und erzählt neben dem Familiendrama den immanenten Geschlechterkampf: Hinter dem jämmerlichen Mann drängt eine ehrgeizige Frau. Hinter der ehrgeizigen Frau lauert der betrügerische Vater. Hinter dem Betrüger lauert die gewinnsüchtige Braut. Aber selbst in dieser liebenden Braut wohnt noch ein Mann. In dieser Inszenierung geht nicht ein Kind an einer verlogenen Vergangenheit der Eltern zugrunde. In dieser Aufführung verliert ein Kind seine Zukunft. Die Elterngeneration hat sich an ihr vergangen. Da wird ein komplettes System von Übervorteilung angeklagt: die oben schwimmen, sahnen ab. Die ganz unten gehen daran zugrunde. „In der tiefsten Tiefe war sie, die Wildente.“
Als wär’s ein Karussell lässt die Aufführung die Geschichte dieser Hinrichtung an uns im Kreis vorbeiziehen, als wiederholte sich das Leben in ewigen Windungen. Mit expressionistischen Gesten wird der Text von den Schauspielern mal bis in den Ausdruckstanz erhöht, mal genussvoll zelebriert, z.B. von (Michael Goldberg als) Frau Sorby, die ein Loblied auf die Ehe singt. Auch der Raum trägt zum Blickpunktwechsel bei: Die dauernde Drehung der Welt lässt uns immer wieder neu auf das Stück blicken, hinter die Kulissen schauen. Das ringt dem Bühnenraum (von Janina Audick soverän erdacht) immer neue Sprachräume ab und zwingt uns zu stets neuer Sicht aufs Einzelne, ohne das Ganze zu verwischen. Mit eingeblendeten Filmtiteln wird die Sprache vergrössert. Mit überblendenden Projektionen wird das Geschehen der Bühne erweitert. Trotz allem Spektakel bleiben inmitten allem Aufwand Zartheit: Menschen, Menschengesten, das, wofür wir Theater lieben: Menschenkinder, die ihr Schicksal nicht verstehen wollen, und die das weit über den Text hinausgehend in Bewegung ausdrücken. Wie verblüffend uns da Lena Schwarz einen expressionistischen Schrei aus ferner Zeit präsentiert! Was für eine prächtige Menschenfigur gelingt da Torben Kessler als Hjalmar, wie er zum Beispiel nach all der Aufgeblasenheit als begossener Pudel aus dem Unwetter zurückkommt, und alle Welteroberung abbricht, nur weil ein Regentropf ihn zum armen Tropf macht.
Zum Schluss stirbt bei Ibsen ein Kind, und mit ihm die Liebe. In der Frankfurter Aufführung bringt dieser plötzliche Kindstod den ganzen Luxusdampfer kurz zum stocken. Hoppla! Wurde da eben die Zukunft aller verraucht? Am Ende trifft Claude De Demo als Kind noch einmal mitten ins Herz. Das Kind bringt seine Zukunft hinter sich und holt sich dabei den Tod. Da hilft es nicht, wenn der jämmerliche Ziehvater noch verlangt, man möge die Leiche noch einmal ins Leben bringen, damit er ihr sagen kann, dass er sie geliebt habe. Die Wildente kommt aus der Tiefe nicht mehr zurück.