Frankreich startet mit grossen Hoffnungen und viel offensivem Potenzial in sein Heimturnier. Die EM soll nach schwierigen Jahren der Beginn einer neuen Ära sein.
Bald jährt sich der Kopfstoss von Zinédine Zidane im WM-Final von 2006 zum zehnten Mal. Die Tätlichkeit des einstigen Spielmachers in Berlin markierte für das französische Nationalteam nicht nur das Ende eines erfolgreichen Ära, sondern auch der Beginn einer Leidenszeit, die sich nicht auf das Sportliche beschränkte. Zidanes Nachfolger waren neben dem Platz unterhaltsamer als auf dem Feld. Sie streikten, intrigierten, stritten und beschimpften sich.
In Frankreich kosteten die permanenten Skandale und Skandälchen der «Equipe tricolore» viel Sympathien. Der Ruf nach einem Neuanfang wurde immer lauter. Nationalcoach Didier Deschamps hat ihn vollzogen. Nur noch sechs Feldspieler, die die EM 2012 bestritten haben, stehen auch im diesjährigen EM-Kader. Zu den Abwesenden im 23-Mann-Aufgebot für das Heimturnier gehören mit Karim Benzema, Franck Ribéry, Samir Nasri und Mathieu Valbuena vier der bekanntesten französischen Spieler.
Benzema wurde die Verwicklung in den Erpressungsfall um ein Video, das Valbuena beim Sex zeigt, zum Verhängnis, Nasri spielt seit seinem x-ten Fehlverhalten bei einem Zusammenzug der Nationalmannschaft keine Rolle mehr, Valbuena erhielt wegen anhaltendem Formtief kein Aufgebot, und Ribérys scheue Anfrage für ein Comeback nach dem Rücktritt 2014 wies Deschamps ziemlich schnöde zurück. «An Ribéry habe ich nie gedacht. Seit er zurückgetreten ist, habe ich anderen Spielern vertraut, die mir dieses Vertrauen zurückgezahlt haben.»
Die Zeit der Einzelkämpfer soll vorbei sein. Vor allem Ribéry personifizierte mit seinem Hang, alles an sich reissen zu wollen und innerhalb der Gruppe öfter für Missstimmung als für Zusammenhalt zu sorgen, die Probleme der letzten Jahre. Bei einer Umfrage der Sportzeitung «L’Equipe» sprachen sich im letzten März über zwei Drittel gegen eine Rückkehr des Mittelfeldspielers von Bayern München in den Kreis der Internationalen aus.
«Grizou» und die drei Helfer
Dass der erfolgsorientierte Deschamps so konsequent auf fehlbare potenzielle Leistungsträger verzichtet, hat einen Hauptgrund: Er besitzt Alternativen. In der Offensive war das Angebot an Spielern derart gross, dass der «Sélectionneur» sogar unter anderen Kévin Gameiro nicht berücksichtigte, den besten Torschützen von Europa-League-Sieger FC Sevilla. Er setzt mit André-Pierre Gignac und Olivier Giroud auf zwei körperlich stärkere Mittelstürmer. Und für die offensiven Aussenposten im 4-3-3-System stehen Antoine Griezmann, Dimitri Payet, Anthony Martial und Kingsley Coman zur Verfügung.
Auf Griezmann liegt der grösste Druck. Das erkennt man schon an seinem Übernamen: «Grizou» in Anlehnung an «Zizou». Wie von Zidane wird von Griezmann das Unerwartete erwartet. Der 25-Jährige, der schon seit über zehn Jahren in Spanien Fussball spielt, hat sich zur Identifikationsfigur der neuen «Bleus» gemausert. Nicht zufällig ist er einer, der gelernt hat, sich zurückzustellen, wenn es der Mannschaft hilft. Im beeindruckenden Defensivverbund von Atletico Madrid muss auch er seine Rolle ausfüllen. Seiner Torgefährlichkeit haben die Anforderungen von Trainer Diego Simeone nicht geschadet. Er hat in dieser Saison 32 Treffer erzielt.
Das Prunkstück von Deschamps‘ bevorzugtem System bildet das Mittelfeld mit drei Spielern, die sowohl offensive als auch defensive Qualitäten haben, sogenannte «Box-to-Box-Player», die je nachdem hinten aushelfen oder vorne mitmischen. Paul Pogba und Blaise Matuidi sind gesetzt, den dritten Posten wird nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Lassana Diarra entweder Yohan Cabaye oder Ngolo Kanté, der interessante Senkrechtstarter vom englischen Meister Leicester, einnehmen.
Viel Begeisterung, wenig Erfahrung
Kanté, der noch nicht fünf Länderspiele bestritten hat, steht aber auch stellvertretend für den Mangel an Erfahrung im Kader der Franzosen. Nur gerade drei Spieler standen mehr als 50 Mal für die «Equipe tricolore» im Einsatz. Vor allem in der Innenverteidigung, die ohnehin und ganz speziell nach dem Forfait von Abwehrchef Raphaël Varane als Schwachpunkt angesehen wird, kann die fehlende Routine entscheidend sein. Der Druck, der auf den französischen Internationalen vor ihrem Heimturnier lastet, ist beträchtlich. Erwartet wird, dass sie Frankreich nach der EM 1984 und der WM 1998 zu einem weiteren Heimsieg führen.
Immerhin hat die offensiv ausgerichtete Mannschaft die Sympathien der Fans. Beim ersten Trainingslager im baskischen Biarritz verfolgten an vier Tagen über 30’000 Zuschauer die öffentlichen Trainings, und die letzten beiden Testpartien vor dem Turnier waren schon Wochen vorher ausverkauft.