Frühes Wählen in Ohio

Abgesehen von den Wahlen selbst bringt hier nichts die Gemüter so sehr ins Wallen wie der Streit um frühes Wählen. Die eine Seite (Republikaner) weist darauf hin, man wolle nur potentiellem Wahlbetrug vorbeugen. Die andere (Demokraten) wirft jedem, der der Stimmabgabe irgendwie Hindernisse in den Weg legen möchte, die de-facto Einschränkung des Wahlrechts von Minderheiten […]

Wählen in Ohio

Abgesehen von den Wahlen selbst bringt hier nichts die Gemüter so sehr ins Wallen wie der Streit um frühes Wählen. Die eine Seite (Republikaner) weist darauf hin, man wolle nur potentiellem Wahlbetrug vorbeugen. Die andere (Demokraten) wirft jedem, der der Stimmabgabe irgendwie Hindernisse in den Weg legen möchte, die de-facto Einschränkung des Wahlrechts von Minderheiten und älteren Wählern vor. Wer hat Recht?

Wählen ist meines Erachtens nicht nur das Recht eines jeden Staatsbürgers, es ist auch eine moralische Pflicht. Das Argument, man sei ja nur ein kleiner Fisch in einem riesigen Teich, hat für mich noch nie gehalten – wenn jeder so fühlte, fänden Wahlen nicht statt. Wahlrecht ist das eine, was einen Staatsbürger in den USA von einem green card holder oder permanent citizen unterscheidet: man kann der Armee beitreten, braucht bei der Wiedereinreise nicht an den elendlangen Schlangen für Nicht-Staatsbürger anzustehen, doch wählen und gewählt werden kann man nicht.

Das ändert sich mit der Annahme der Staatsbürgerschaft, und wenn ich auch persönlich vom hiesigen politischen System genauso frustriert bin wie viele andere auch, bin ich bisher noch bei jeder Wahl dabeigewesen, seitdem wir amerikanische Staatsbürger geworden sind. Anfangs hatte ich keine Ahnung, wer viele der Richter (die hier auch gewählt werden) oder Landkreisangestellten waren, die auf dem Stimmzettel standen. Auch gibt es immer wieder sogenannte school levies, also lokale Schulabgaben, basierend auf dem Wert der sich in einem Schulbezirk befindlichen Grundstücke und Häuser, über die man zu entscheiden hat. Doch im 21. Jahrhundert findet sich für alles eine Webseite, und zwischenzeitlich informiere ich mich, bevor ich mich auf den Weg zum Wahllokal mache.

Wer sich nicht registriert, kann nicht wählen

Genauso sicher, wie das Amen in der Kirche, kommen hier jedes Mal hitzige Diskussionen in Gang, wenn eine wichtige Wahl ansteht. Die eine Seite, fast ausnahmslos Republikaner und mit ihnen verbandelte Organisationen und Gallionsfiguren, fordert dann, man müsse endlich den weitverbreiteten Wahlbetrug in den Griff bekommen. Als Maßnahmen werden gerne die Einschränkung der frühen Stimmabgabe und Ausweispflicht angeführt. Die Gegenseite, selbstverständlich das demoktratische Lager, kontert mit Vorwürfen von gezielter Wahleinschränkung und -behinderung. Seit dem Debakel der Präsidentschaftswahl von 2000, die letztendlich durch ein Urteil des Supreme Court entschieden wurde, hat diese kleinlich klingende Debatte größte Bedeutung.

In Ohio muß man sich als Wähler registrieren, um überhaupt wählen zu können. Das geschieht entweder persönlich oder auf dem Postweg beim lokalen Board of Elections. Alles, was man über den Ablauf und das Wählen erfahren möchte, kann auf der Webseite des Ohio Secretary of State gefunden werden. Wenn man wählen geht, hat man sich gegenüber dem poll worker auszuweisen, und bei Vorwahlen ist die Parteizugehörigkeit anzugeben, die aber im Wahllokal vor Ort per eidesstattlicher Erklärung geändert werden kann. «Ausweis» ist hier weit gefaßt – man kann auch eine Nebenkostenabrechnung (Strom, Abwasser etc.) bringen, die den eigenen Namen und Adresse trägt.

Als ich in Deutschland das erste Mal wählen war, mußte ich mich selbstverständlich nicht registrieren, weil Deutschland über ein volles Meldewesen verfügt. «Man» wußte also, daß ich wahlberechtigt war, und stellte mir per Post eine Wahlbenachrichtigung zu. Deutschland hat eine Ausweisplicht, und das macht diese Kontroverse ebenfalls überflüssig.

Der organisatorisch-politische Spagat

In Ohio und den USA an sich ist das allerdings komplett anders. Weil es weder ein Meldewesen, noch eine generelle Ausweispflicht gibt, haben viele Leute nicht einmal eine sogenannte state ID, also einen von ihrem Heimatstaat ausgestellten Ausweis. Diese Leute gehören häufig Minoritäten an, und damit einer Gruppe, die statistisch gesehen gerne demokratisch wählt. Frühere Erfahrungen mit poll taxes, die faktisch nur dazu da waren, farbige Minderheiten um ihr verfassungsmäßig garantiertes Wahlrecht zu bringen, gepaart mit der Schwierigkeit, in einem nahverkehrsarmen Staat überhaupt am Wahltag zu einem Wahlbüro zu kommen (oder auch nur das richtige zu finden – nicht jeder hat Internet), machen jede Wahl zu einem organisatorisch-politischen Spagat. Man sieht am Wahltag dann auch in vielen Großstädten lange Schlangen vor den Wahllokalen.

Die Verwaltung der Wählerlisten obliegt den jeweiligen Board of Elections, und aufgrund der Tatsache, daß man fast überall VOR dem eigentlichen Wahltag (der übrigens immer der erste Dienstag im November ist), gibt es durchaus die Möglichkeit, daß Stimmen falsch oder am falschen Ort abgegeben werden. Bei einer Wahl, die so knapp ausfällt, wie die im Jahre 2000, können ein paar ungültige Stimmzettel in einem winner-takes-all System Sieg oder Verlust bedeuten.

Womit wir wieder beim Thema wären: wer hat hier eigentlich Recht?

Fakt ist, daß keinerlei Statistiken existieren, die ich per Google finden konnte, nach denen Wahlbetrug in Ohio ein riesiges Problem ist. Ein weiterer Fakt ist, daß diese Diskussionen immer dann aufkommen, wenn eine wichtige Wahl ansteht. Ein gutes Indiz in dieser Hinsicht sind die zahlreichen Werbetafeln, die in Cleveland und Columbus aufgestellt wurden, und auf denen vor Wahlbetrug als einem Verbrechen, das mit Geld- und Gefängnisstrafe geahndet werden kann, gewarnt wurde. Diese befanden sich durchweg in von Minderheiten bewohnten Vierteln. Zufall? Wohl nicht. Oder die Aufnahme von Mike Turzai, dem GOP House Majority Leader von Pennsylvania, der offen zugibt, das dort vor kurzem verabschiedete Gesetz zur Ausweispflicht von Wählern sei dazu maßgeschneidert, Mitt Romney dort zu einem Sieg zu verhelfen.

Für mich steht vor diesem Hintergrund vor allem eines fest: wenn auch die Tatsachen eher für den Standpunkt der demokratischen Seite sprechen, könnte man den ganzen Schlamassel ganz einfach aus der Welt schaffen: mit einem Meldesystem. Erwähnt man hier jedoch dieses Wort, sind sich alle plötzlich einig. Das sei unamerikanisch, undurchführbar und unpopulär. Und ausnahmsweise haben sie da leider alle Recht.

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