Fuchsjäger im Knast, 26. Mai 2002

Eine gemächliche Wanderung auf dem Clarendon Way führt mich zu einer eigenartigen Farm, wo ich nette Bauern und später ihre Freunde kennenlerne und eine seltsame Geschichte höre.

Aus dem Grau des Nebels ragt der Kirchturm von Salisbury hervor – er allein von der Sonne beschienen. (Bild: Urs Buess)

Eine gemächliche Wanderung auf dem Clarendon Way führt mich zu einer eigenartigen Farm, wo ich nette Bauern und später ihre Freunde kennenlerne und eine seltsame Geschichte höre.

Regen trommelte ans Fenster, die ganze Nacht durch, unten in der Beiz dröhnte eine Disco, monotoner Technorhythmus, im Gang vor dem Zimmer paart sich ungeniert die Salisbury-Jugend, ein rauschendes Zischen ständig, als ob Feuer ausgebrochen sei im Treppenhaus, dazwischen wirre Träume und am Morgen noch immer: Regen am Fenster. Ein Frühstück, das sich über drei Viertelstunden hinzieht, weil die Belegschaft sehr verkatert ist, das Spiegelei gezuckert und der Rucksack schwer, aber überhaupt keine Esswaren mehr drin.

Die Bischöfe von Salisbury müssen einflussreiche Herren gewesen sein, eine eindrückliche, alles überragende Kathedrale haben sie hinterlassen, das Städtchen ist hübsch gestaltet – es sieht jetzt aus, als ob das Mittelalter stehen geblieben sei. Stellenweise jedenfalls. Daneben aber die schrecklichen Warenhäuser, billig und hässlich gebaut, aber immerhin offen auch am Sonntagmorgen. Und es hört nicht auf zu regnen.

Leicht bergan geht es zum Städtchen hinaus, der Rucksack drückt. Clarendon Way. Wenig Vieh, keine Schafe – dafür weite, weite Felder, auf denen die Gerste wächst und der Weizen grün und kniehoch steht. Äcker statt Weiden zwischen den Hecken, dann von einer Anhöhe ein zufälliger Blick zurück: Stolz reckt die Kathedrale ihren spitzen, frühgotischen Turm in die Ebene, das Dach des Schiffes noch zu erkennen, der Rest und die ganze Stadt bleiben hinter dem Wald verschwunden. Und in diesem Moment bricht die Sonne durch und beleuchtet den Turm der Kathedrale – ein schöner Anblick!

Clarendon Way – immer geradeaus

Der Clarendon-Weg folgt einer alten, römischen Strasse, immer geradeaus, wenig spektakulär, durch Felder, Wälder, Gras und aufgeweichte Erde, Dorf reiht sich an Dorf, zeitweise denke ich, bis nach Winchester zu wandern, weil es erst dort wieder Unterkünfte geben soll. Zwei Velofahrer im Greyhound Inn in Priston, inmitten schweigender Gäste, glauben allerdings, in King´s Somborne gebe es  Bed&Breakfast – eine kleine Ermunterung im neu und heftig einsetzenden Regen. Die Landschaft gleicht sich weiter, ein paar Bäche hier, Mühlen, erstmals weidende Schweine und dann das Crown Pub in Somborne.

Nur Männer. Die schwatzen von einer Party, die vergangene Nacht abgegangen sein soll, die Jungen waren dabei, die Alten nicht, schwatzen von der Fussball-WM, über den ausgebooteten Iren Roy Keane, der nicht mehr in seiner Nationalmannschaft spielen wollte. Sie wollen nicht glauben, dass der Match Irland gegen Cameroun um 7.15 Uhr englischer Zeit übertragen wird. Und: Sie wissen von einem B&B. In der New Farm. Einfach zu finden. Ausgangs des Dorfes.

Eine gute Viertelstunde zu gehen, keine Glocke und ein Blick durchs Fenster lässt mich erstarren: Auf dem Sofa neben der Feuerstelle sitzt eine leblose Person. Der Schreck ist kurz – die Leute hier haben eine lebensgrosse Puppe hingesetzt. Ein Mann, Mitte vierzig, öffnet, sieht aus wie ein Mittelschullehrer, der am Sonntagnachmittag Aufsätze korrigiert und er tut entsprechend umständlich. Ja, eigentlich hätten sie auch schon Zimmer vermietet, aber seine Frau sei noch auf dem Markt in Winchester, und er wolle mir die Unterkunft nicht versprechen. Die Frau komme nächstens zurück. Wir einigen uns darauf, dass ich im Pub auf Nachricht warte. Er erlaubt mir, den Rucksack vorläufig da zu lassen. Mir scheint, das sei schon die halbe Miete.

Und so ist es: Eine halbe Stunde hält er vor dem Pub und fährt mich zurück, bittet mich ans Feuer zu sitzen und erzählt, dass sie zu den letzten Bauern des Orts gehören. Vieh-, Getreidewirtschaft – daneben Hühner. Es gäbe nicht mehr viele, die ohne Nebenverdienst überleben können. Seine Frau, die oben das Zimmer bereit macht, sei eine grosse Blumenkünstlerin, die beiden bereisen Gartenmärkte in ganz England und auch auf dem Kontinent.

Überall Bücher, Roy Porter, Jane Austen, Willman Morris, neben der Puppe auf dem Sofa eigentümlich gemalte Bilder, etwas anarchische Ordnung – ich wage nicht zu fragen, ob sie schon immer Bauern gewesen seien oder eventuell doch eher eine Art Aussteiger. Oder Umsteiger. Dann kommt Jacky, seine Frau. Sie zeigt mir das Zimmer: Himmelbett mit geblumtem Dach, schöne alte Möbel, ein Lehnstuhl und plötzlich Sonne. Innert Kürze sind die Wolken weggeweht, wolkenloser Himmel.

Einladung zu Freunden

Ich gehe zurück ins Pub, esse etwas, da tritt John, mein B&B-Wirt, ein und fragt mich, ob ich ihn und seine Frau zu Freunden begleiten möchte. Wir fahren zwei Meilen weit und da ist es: Ein Freund von John und Jacky hat zu einem Glas Wein geladen. Er ist Banker in London und kommt mit seiner Gattin Wochenend für Wochenend hierher in sein neu gebautes, sehr geschmacksvoll eingerichtetes Landhaus. Er, seine Frau, John und Jacky fragen mich nach meiner Reise, fragen mich über die Schweiz aus, der Banker weiss zwar einiges, da er eine Weile für die UBS gearbeitet hat und wöchentlich nach Zürich flog.

Angst um die Hühner

Die Bäuerin drängt zum Aufbruch, die Hühner sind noch draussen, letzte Nacht hat der Fuchs vier gerissen. Ob sie ihn nicht fangen können, frage ich.

Das ergibt eine neue Geschichte: Der Fuchsjäger, den sie auch schon hat kommen lassen, sitzt in U-Haft. Er soll eine Frau vergewaltigt haben. Das könne aber nicht sein, sagen alle vier. Das könne wirklich nicht sein – alle vier kennen ihn. Es könne nicht sein, weil der Fuchsjäger keinen derartigen Charakter habe. Jemand wolle ihm schaden. Bereits vor vier Jahren sei er aus gleichem Grund verhaftet worden. Man habe ihn aber freilassen müssen – und jetzt sitze er genau wegen jenes Falles wieder im Knast. Irgendjemand habe seine Tagebücher der Polizei zugespielt. Darin habe der Fuchsjäger vermerkt, dass er die angeblich vergewaltigte Frau am besagten Abend der Tat nackt durch den Garten habe laufen sehen. Deswegen sitze er wieder. Und darum könne er den Fuchs nicht schiessen. Und wenn man jetzt nicht aufbreche, beisse der Fuchs wieder zu.

Der Fuchs hätte, denke ich auf der Heimfahrt, jedenfalls keine Mühe, die Hühner zu finden. Hell leuchtet der Vollmond aus wolkenlosem Himmel in die hüglige Landschaft.

(King´s Somborne, 26. Mai 2002)

« vorherige EtappeNächste Etappe »

Nächster Artikel