Kurz vor dem französischen Nationalfeiertag, dem Quatorze Juillet, hat die Nationalversammlung beschlossen, das Wort Rasse aus der Verfassung zu nehmen. Das Votum war einstimmig, allerdings beteiligte sich weniger als ein Viertel der Deputierten an der Abstimmung, nämlich 119 der 577, was nicht gerade von einem als wichtig eingeschätzten Traktandum zeugt.
Der aus der Verfassung von 1946 stammende Begriff sei veraltet, befand der meinungsstarke Präsident Emmanuel Macron. Der Begriff war – wohl verstanden – Teil eines Gleichheitsartikels, der allen Menschen Gleichheit vor dem Gesetz «unabhängig von ihrer Herkunft, Rasse oder Religion» garantierte. «Rasse» ist nun durch «Geschlecht» ersetzt worden, was nachvollziehbar ist, und «Menschen» durch «Bürger», was weniger gut ist, weil es den Eindruck vermitteln könnte, dass Nichtbürger davon ausgenommen sind.
Der einleitende Verfassungsabschnitt (die Präambel) von 1946 war ein bewusster Kontrapunkt zur Nazi-Ideologie:
«Am Tage nach dem Sieg, den die freien Völker über die Regierungen davongetragen haben, die versucht hatten, die menschliche Persönlichkeit zu unterjochen und herabzuwürdigen, verkündet das französische Volk von Neuem, dass jedes menschliche Wesen ohne Unterschied der Rasse, der Religion oder des Glaubens unveräusserliche und heilige Rechte besitzt.»
Wie zu erwarten, erntete Macron für seinen Revisionsvorschlag auch Kritik: Das sei nur Kosmetik, der real praktizierte Rassismus werde dadurch nicht beseitigt. Diskriminiert wird nicht wegen des pseudobiologischen Rassenbegriffs, sondern wegen bestehender Vorstellungen von Ungleichheit und dem Bedürfnis, aufgrund von Aussehen, Herkunft, Glauben und Geschlecht andere abzuwerten und sich selber aufzuwerten.
Entscheidend sind die Vorurteile
Die in Paris angenommene Verfassungsänderung muss noch mehrere prozedurale Hürden nehmen. Die beschlossene Streichung der Rassenvokabel hat aber in der Schweiz sogleich eine kleine Diskussion ausgelöst, die in eine nicht anvisierte Richtung abgleiten kann.
«Tages-Anzeiger»-Redaktor David Hesse verkündete auf der Meinungsseite, dass der Begriff Rasse «wissenschaftlich haltlos, juristisch unbrauchbar» sei. Dem kann man zustimmen, wie auch der Feststellung, dass wir alle genetisch zu 99,9 Prozent gleich sind und dass es auf unseren Blick, unsere Einstellung und unsere Vorurteile ankommt.
Damit sind wir nicht mehr bei «Rasse», sondern beim «Rassismus».
Der besagte Artikel hat prompt einen Leser veranlasst, vor der Rassismus-Keule zu warnen. «Weisse Beschwerdeführer», etwa wegen nächtlicher Ruhestörung, würden offenbar von nichtweissen Krachmachern im Falle von Reklamationen schnell des Rassismus bezichtigt, sodass Integrationsprobleme nicht mehr angesprochen werden dürften («Tages-Anzeiger» vom 4. August 2018). Frage am Rande: Gibt es denn keine «weissen» Nachtruhestörer?
Auf «bloss» verbale Diffamierung folgt oft handfeste Diskriminierung.
Hinter dieser Wortmeldung steht die Meinung, dass man sehr wohl von Rassenunterschieden ausgehen dürfe und dass es falsch sei, wenn aus Political Correctness die Benennung dieser Unterschiede tabuisiert würde.
Das passt zur stets geäusserten Sorge: Werden wir in unserer Meinungsfreiheit eingeschränkt (Stichwort: eidgenössischer Maulkorb)?
Was bestimmte Unarten, von unserer Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen, auf der Seite der allenfalls Verletzten und sogar materiell Benachteiligten auslöst, interessiert in dieser Debatte kaum. Doch oft ist ein öffentliches Wort nicht ein wirkungsloses Wort, sondern eine Art Vorbereitungshandlung für konkrete Zurücksetzung. Auf «bloss» verbale Diffamierung folgt oft handfeste Diskriminierung.
Der Streit der Schriftsteller
Das hat einmal mehr der Schriftsteller Thomas Hürlimann nicht begriffen: In seiner (zu) stark beachteten 1.-August-Rede wetterte er gegen die «Sprachpolizei». Zum Glück widersprach ihm Lukas Bärfuss, der in mehrfacher Hinsicht der frischere Schriftsteller ist, was sich etwa in dieser Äusserung gegenüber «20 Minuten» zeigt: «Ich teile Hürlimanns Meinung zwar nicht – aber er darf sagen, was er will.»
Sicher gibt es auch auf der Seite von Kritisierten den schnellen Reflex und die bequeme Replik, einen unter Umständen zu Recht deponierten Protest als rassistisch abzutun. An gleichsam beide Seiten gerichtet, kommen Warnungen vor inflationärem Rekurrieren auf Rassismus.
Christoph Blocher hat schon 2007 (im «Le Matin» vom 28. November) erklärt, man soll aufhören, «überall» Rassismus zu sehen. Die Gegenbotschaft dazu muss jedoch lauten, dass man mindestens so sehr aufhören soll, «nirgends» Rassismus zu sehen.
Rasse in Anführungszeichen
Ich räume ein, dass es mich auch in meiner Eigenschaft als damaliger Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) von Anfang an gestört hat, dass der 1995 eingesetzte Strafgesetzartikel 261bis ohne Anführungszeichen den Begriff Rasse verwendet: «Wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion zu Hass oder Diskriminierung aufruft, wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung der Angehörigen einer Rasse, Ethnie oder Religion gerichtet sind, wer mit dem gleichen Ziel Propagandaaktionen organisiert…»
Als die EKR 2009 mit besonders vorsichtigen Formulierungen ihre Besorgnis bezüglich der Fremdenfeindlichkeit gegenüber Deutschen mitteilte und auf die Gefahr kollektiver Diskriminierung im Alltag, am Arbeitsplatz, am Wohnort, an der Ladenkasse, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Restaurants hinwies, reagierte die SVP umgehend und hämisch: Wir würden die Deutschen zu einer schutzbedürftigen Rasse machen.
Unsere Antwort: Es gehe auch da nicht um tatsächliche Rassen, sondern um Bilder von Rassen, Volksgruppen, Staatsangehörigen.
Das Konzept des «Rassismus» kann streng genommen nicht auf Staatsangehörige anwandt werden.
Dieser Fall zeigte die Schwäche des auf «Rassismus» ausgerichteten Konzepts: Es konnte, streng genommen, nicht auf Staatsangehörige angewendet werden, ist aber im Fall von Kosovaren zum Zug gekommen, nicht aber im Fall von Albanern, Türken, Jugoslawen etc. Ein Konzept, das sich auf Menschenrechte beruft, wäre besser geeignet, Menschengruppen den Schutz angedeihen zu lassen, auf den sie ein Anrecht haben.
Insofern ist also dem «Tagi»-Redaktor Hesse recht zu geben, wenn es ihn stört, dass der Gleichheitsartikel 8 der Bundesverfassung den Begriff Rasse ohne Anführungszeichen aufführt. Gar nicht zustimmen kann ich jedoch der Schlussfolgerung, dass die Verwendung dieses Begriffs als amtliche Kategorie nur die Rassisten fördere. Hier müsste sich der Redaktor daran erinnern, was er selber ein paar Zeilen zuvor zur französischen Kosmetik gesagt hat.
Steinwurf in den Teich der helvetischen Gesellschaft
Für Rassismus sind noch immer die Rassisten absolut selber verantwortlich. Wir sollten gar nicht beginnen, andere oder anderes (rüpelhafte Krachmacherei, Frauenanmache oder schwer nachvollziehbare Religiosität) für unsere Reflexe oder die in der Gesellschaft zirkulierenden Negativbilder verantwortlich zu machen.
David Hesses Steinwurf in den Teich der helvetischen Gesellschaft provozierte nicht nur die Wortmeldung des vielleicht in der Nachtruhe gestörten Leserbriefschreibers.
Es meldete sich auch ein Politiker aus der Waadt, der darauf aufmerksam machte, dass man in der neuen Kantonsverfassung von 2003 den Begriff Rasse durch «Erbgut» (patrimoine génétique) ersetzt habe. Offenbar will diese Lösung auch vor Diskriminierung von Behinderten und Neigungen zum gleichen Geschlecht schützen und – warum nicht – auch krankhafter Fettleibigkeit.
Ein neues Rassendenken
In unseren Tagen kann man über alles diskutieren und es wird über alles debattiert. Das mag seine guten Seiten haben, entwertet aber – zu Recht – viele Wortmeldungen, die subito abgesondert und nach kürzester Zeit auf die Halde der vielen anderen Meinungen wieder entsorgt werden. Gewisse Meinungen kommen fast aus dem Nichts – etwa im Stil «was man auch noch sagen könnte» – oder sie kommen als Reaktionen auf bereits Bekundetes.
Die vielen Kurzdispute im grossen Debattenstrom der zu permanenter Aufregung neigenden Gegenwart haben vor allem die Funktion, die Aufmerksamkeit auf die einzelnen Debattierer und weniger auf das Gesagte zu lenken.
Wenig bemerkt macht sich, von Genetikern gepuscht und Nichtgenetikern gerne rezipiert, wieder ein Rassendenken breit. Vom NZZ-Feuilleton erhielt man (was ein weiterer Steinwurf war) die Botschaft serviert: «Neue wissenschaftliche Erkenntnisse rütteln an der These, dass es zwischen menschlichen Populationen keine allzu grossen Unterschiede gäbe. Womöglich ist ‹Rasse› doch mehr als eine soziale Konstruktion?»
Genetische Grundlagen für Intelligenz
Doch mehr … also was? Zunächst ist einzig von «Rassen» die Rede, die gemäss Auswertung von Olympia-Sportlern einen idealen Körperbau und die Fähigkeit zum Schnelllauf hätten und – nebenbei, dass es auch genetische Grundlagen für Intelligenz gebe. Von Mentalität und Moral ist immerhin noch nicht die Rede.
Aber der NZZ-Autor ermuntert doch sehr, für die Einsicht offen zu sein, dass es genetische Unterschiede zwischen ganzen Populationen, Nationen oder gar Rassen gebe, die das Leben des Individuums prägen.
Was haben wir mit solchen Feststellungen gewonnen, wenn wir in unseren kulturell durchmischten Gesellschaften ein Zusammenleben mit Anstand und Respekt zustande bekommen wollen?