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Review zu „Verloren unter 100 Freunden: Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern“ von Sherry Turkle (2012) // Manchmal schreibe ich eine SMS und frage mich danach: warum habe ich jetzt nicht angerufen? E-Mail, SMS und What’s App erlauben mir, jederzeit und überall mit einer grossen Anzahl von Menschen in Kontakt zu sein und […]

Review zu „Verloren unter 100 Freunden: Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern“ von Sherry Turkle (2012) //

Manchmal schreibe ich eine SMS und frage mich danach: warum habe ich jetzt nicht angerufen? E-Mail, SMS und What’s App erlauben mir, jederzeit und überall mit einer grossen Anzahl von Menschen in Kontakt zu sein und sie mir gleichzeitig vom Leib zu halten. Von der Technologie (oder unserem Arbeitsgeber oder doch von uns selber?) zu ständiger Erreichbarkeit und Kommunikation gedrängt, reden wir doch immer weniger. Anstatt uns ausführlich mit einem Gegenüber auszutauschen, schicken wir einfach eine Nachricht. Verwechseln wir unser Bedürfnis, Gefühle mitzuteilen, mit dem Bedürfnis, Informationen auszutauschen?
Sherry Turkles Buch Alone Together: Why We Expect More from Technology and Less from Each Other (2011) ist nun in der deutschen Übersetzung mit dem Titel Verloren unter 100 Freunden: Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern erhältlich.

(Bild: x)

Herr Simanowski, wovon handelt das Buch? Vom Niedergang der Freundschaft und von der Freundschaft zum Roboter.

Ein doppelter Kulturpessimismus? Zum einen steuern wir auf eine Welt zu, in der smarte Maschinen unsere täglichen Aktionspartner sein werden. Tamagotchi war zum Eingewöhnen, die nächste Stufe sind Aufräumroboter, Pflegeroboter, Konversationsroboter. Zum anderen suchen wir nur noch risikofreie Freundschaften, die sich kontrollieren und wenn nötig abschalten lassen, was schon damit beginnt, dass wir online die Passfähigkeit der potentiellen Freunde anhand ihres Profils vorab prüfen können.

Was sind wichtige Schlagworte? „no-risk relationship“, „connectivity and its discontents“.

Was ist die zentrale These des Buches? Die steht schon im Titel und resultiert aus einer persönlichen Erfahrung. Turkle war auf einer Konferenz in Japan, wo es Wi-Fi gab und fast alle nicht den Vortragenden folgten, sondern ihre Email erledigten oder andere Dinge im Netz. Die erste Hälfte der These lautet: Menschen kommunizieren nicht mehr richtig miteinander, wenn sie physisch beieinander sind. Die zweite: Sie tun es auch nicht, wenn sie virtuell zusammen sind.

Inwiefern? Ein Beispiel ist die 30jährige Werbemanagerin Ellen, die während der wöchentlichen Skype-Telefonate mit ihrer Großmutter Emails erledigt und dies zwar schuldbewusst berichtet, sich gegen das Multitasking-Dispositiv des Mediums aber nicht wehren kann. Ein anderes sind die SmartPhones, die wie eine Waffe zwischen denen liegen, die sich zwar extra verabredet haben, trotzdem aber zulassen, dass ihre reale Gemeinsamkeit durch tausend virtuelle gefährdet wird.

Das Ende wahrer Kommunikation also? Rechnet man Turkles Kritik zusammen, so entziehen wir uns nicht nur den Fremden, denen wir unterwegs begegnen, weil wir ja immer online sind, wir entziehen uns auch den Freunden, weil wir nicht mehr exklusiv mit ihnen kommunizieren, wenn wir mit ihnen kommunizieren. Mit wem kommunizieren wir dann überhaupt noch hingebungsvoll? Mit den Medien selbst: Sie sind vom Mittel der Kommunikation zu ihrem eigentlichen Adressaten geworden.

Gibt es Probleme mit dem Buch? Dass es zu solchen tiefer gehenden Schlussfolgerungen nur inspiriert. Turkle ist die Geschichtenerzählerin unter den kritischen Medientheoretikern. Sie beschreibt ihre Methode als „intimate ethnography“, was konkret heisst, dass rund 450 Menschen zu ihrem Mediennutzungsverhalten befragt werden. Das Ergebnis sind viele persönliche Geschichten, detailreich und redundant erzählt, aber ohne jeden theoretischen Ehrgeiz.

Warum empfehlen Sie das Buch trotzdem? Weil es an verlorene Befindlichkeiten erinnert. Zum Beispiel wenn der 27jährige Randy sich beschwert, dass seine 24jährige Schwester ihm in einer Rundmail statt in einem persönlichen Telefonat ihre Verlobung mitteilt. Oder wenn Turkle selbst im Zug sich behandelt fühlt wie ein Nichts, weil der Mann ihr gegenüber lauthals seiner Freundin am Handy die Probleme mit den Kollegen klagt. Solche Anekdoten legen anschaulich und persönlich den Finger auf die wunden Stellen der Mediengeschichte und provozieren ein Eingedenken (Benjamin hätte gesagt: Stillstand) im Ablauf des unaufhaltsamen Fortschritts.

Haben Sie einen Lieblingssatz? „Aber wenn wir ständig im Netz sind, entgehen uns die Freuden des Alleinseins.“ Alleinsein als Freude bzw. „reward“, wie es im Original heisst. Lässt sich das den „digital natives“ noch vermitteln? Dieser Satz wirkt wie das Glaubensbekenntnis einer aussterbenden Generation und gehört eigentlich zum UNESCO Weltkulturerbe.

Woran erinnert Sie das Buch? An Turkles eigenes berühmtes Buch Life on the Screen: Identity in the Age of the Intenet (1995), das das Internet noch als Ort des „Identity Workshops“, also der spielerischen Selbsterkundung jenseits der Zwänge der realen Welt, feierte. Soviel Hoffnung in die neuen Medien brachte Turkle 1996 ein Titelbild auf dem Geek-Magazin Wired ein. Mit ihrem neuen Buch hat sie, als Teil des „critical turn“ in der Netz-Theorie, darauf gewiss keine Aussichten. Dann erinnert mich Turkles Buch an den französischen Geschwindigkeitsforscher Paul Virilio, der in Ästhetik des Verschwindens (1986) den Verlust des Zwischenraums beschreibt: Wir steigen im Winter ins Flugzeug und im Sommer aus, dazwischen ist nur Zeit ohne Raum. Was wir heute erleben, ist das Verschwinden der Zwischenzeit, und zwar in doppelter Hinsicht: 1. Wir sind immer gleich da, wo auch immer im Cyberspace wir hin wollen. 2. Wir lassen keine „Downtime“ mehr zu (das Warten auf den Bus, die Fahrt im Taxi), in der wir mit uns selbst allein wären, sondern flüchten per SmartPhone immer in unsere vielen Besorgungen im Internet. Und sind so verloren nicht nur unter 100 Freunden, sondern auch unter 1000 Dingen.

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