Hoch über dem Walensee tut sich eine bemerkenswerte Landschaft mit ebenso eigenartigen Menschen auf. Ein spontaner Liederabend im Hotel «Gemsli».
Um neun Uhr morgens sind wir im Tiergarten aufgebrochen, Moni ins Geschäft, ich an den Bürkliplatz, von wo aus ich mit dem Schiff den Zürichsee hinter mich bringen wollte, dem ich gestern auf dem Hügelrücken entlang marschiert war. Ich genoss die Schiff-Fahrt, las Zeitung, schrieb Briefe, Karten und freute mich am aufgelockerten Himmel. In Rapperswil schien gar die Sonne, die Leute sassen in den schmucken Restaurants und liessen sich den Lunch servieren. Sehr ordentlich, dieses Städtchen, das mich an die wilden Geschichten von Gerold Späth erinnerte.
Ich spürte, dass ich nun Abstand von daheim, auch von Zürich brauchte, um meine Wanderung wieder entschiedener als in den letzten Tagen voran bringen zu können. Die flache und eintönige Linthebene, die man im Auto mit schwerem Fuss auf dem Gaspedal durchquert, reizte mich ganz und gar nicht, um diesen entschiedenen Anfang zu starten. Setzte mich ins Züglein Richtung Glarnerland, fuhr durch regendurchtränkte Wiesen – Escher hätte durchaus noch ein bisschen konsequenter drainieren können – riesige Pfützen, kleine Weiher gar, glänzten in der durchbrechenden Sonne, der Fussweg stand knöcheltief im Wasser.
Jetzt kommen die Berge
Dann schulterte ich den Rucksack, durchquerte Näfels und stand vor den Voralpen. Von nun an wird es keine flachen Umwege mehr geben, irgendwann muss man den Aufstieg wagen. Stapfte den Kerenzerberg hoch, gewahrte freundliche Menschen in Mollis – ein Wanderer ist hier im Gegensatz zu den französischen Ebenen kein Ungeheuer. Einer, der einen Rucksack irgendwohin trägt, verdient einen gewissen Respekt, die Bauern grüssen freundlich, respektvoll. Hat wohl auch mit der Jahreszeit zu tun – Ferienzeit. Einer, der «Grüezi» sagt und einen Rucksack durch die Gegend trägt, muss sozusagen fast ein Patriot sein, der faule Ferien an einem fernen Strand verachtet und in seiner Freizeit was leistet.
Auf der alten Landstrasse zog ich Filzbach zu – plötzlich wähnte ich mich in einer Alpgegend: steile Hänge überall, links ein Hang, rechts ein Abhang, Viehhütten, weidende Rinder, muskulöse Wanderer, die entgegenkommen. Braungebrannt dazu – woher, bei diesem Wetter?
Ein deutscher, radelnder Rentner umkurvte mich in Filzbach und fragte: «Wohin denn, froher Wandersmann?» «Nach Sizilien», sagte ich. «Na dann», höhnte er, «richten Sie Grüsse aus.»
Missgeschick auf der Baustelle
Auf den Sportanlagen in Filzbach trainierte ein Club, es hätte Restaurants gehabt, doch ich wollte erst in Obstalden einkehren, zog auf dem Walsa-Weg dahin. Falsch kalkuliert, die Gasthäuser in Obstalden waren geschlossen, der Dorfladen sollte erst um vier Uhr öffnen. Ich wartete vor der Kirche, wo zwei Arbeiter einen neuen Verputz hochzogen, die Spritzmaschine etwas tollpatschig zu reparieren versuchten – jedenfalls platze ein Schlauch und verspritzt den Beton auf dem Kirchplatz. Hätte eine lustige Anekdote sein können. wäre es ein Slapstick in einem Folm gewesen. Ein zugelaufener Handwerker schaute dem Missgeschick ebenfalls zu, konnte aber nichts zur Behebung des Schadens beitragen, ging wieder weg und verabschiedete sich seltsamerweise von mir, der ich da nichtsnutzig auf dem Kirchplatz sass und Most trank.
Hätte gern Herbi, Monis Bruder, der hier in Obstalden wohnt, in seinem Häuschen besucht. Aber er war nicht da. Ist wohl in Deutschland. Schrieb ihm ein Zettelchen und klagte, dass ich nun ohne kühles Bier weiterziehen müsse – dem Walsa-Weg entlang, bergauf, bergab, durch Tobel, hoch über dem See, der so still und auch ein bisschen drohend vor den Churfirsten liegt, in denen sich die Wolken verhängen. Die Leute in den Weilern schafften etwas vor sich her, ein bisschen auf den Feldern, ein wenig in den Gemüsegärten, die Kirschbäume hier tragen wenig Laub, die Früchte sind reif aber klein.
Weit unten brummt die Autobahn
Stromleitungen ziehen sich dem Hang entlang, verunstalten die Landschaft, sirren, ein Tribut an all die Maschinen und Lampen, die man halt nun mal braucht. Unten ruht der See, er ruht wirklich, liegt still und dunkel da, nur wenige Schiffe ziehen Spuren, ein Fischerboot legt sein Netz, in der Sonne leuchten die Schwimmer. Manchmal regnet es auch, und die Schwimmer leuchten dennoch.
Und in all dieser Ruhe ein ebenmässiger Lärm, eine Kulisse. Nur wenn man in sie hineinhört, dann hört man Motoren, die – aneinandergereiht – diesen Pegel ergeben. Die Autobahn, unsichtbar unter den Büschen und Bäumen, zieht sich dem Walensee entlang. Maschinen, die Zielen zueilen, lärmen herauf. Manchmal wird es still – dann, wenn die Autobahn in Tunnels verschwindet. Wie oft bin ich dort unten durchgefahren, habe gelärmt wie all die anderen jetzt.
Der Walensee ist einem eigentlich nur als Verkehrshindernis bewusst geworden bis hin zum Gassenhauer «Oh, Walensee, oh, Qualensee». Und da oben, nur wenige Höhenlinien über dem Wasserspiegel, breitet sich eine Landschaft aus, zieht sich in die Berge hinauf, saftig, unbekannt, belebt, eigenwillig. Und ständig dringt ein fremder Lärm herauf, ein Lärm aus einer anderen Welt.
Ein Bauer hat die Heugabel unter den Gepäckträger geklemmt, tuckert an mir vorbei und fragt: «Noch weit?» «Bis Oberterzen.» «Ist nicht mehr weit.
Jasser, ein Stammtisch und eine Liebesgeschichte
Im Hotel «Gemsli» jassen vier Männer. Eine Frau und ein Mann sitzen daneben am Stammtisch. Die Wirtin hinter der Theke kaut Brot. Ich frage nach einem Zimmer. Die Wirtin nickt, kann aber mit vollem Mund nicht reden und ich setze mich hin. Die Frau am Stammtisch steht auf und bringt mir ein Bier.
Ich erhalte Zimmer acht. Fünfundvierzig Franken – ein Bett, ein Hocker, Dusche und WC. Zum Nachtessen gab es einen garnierten Wurst-Käse-Salat. Es standen auch andere Dinge auf der Speisekarte, aber ich fürchtete, die Wirtin im Hotel „Gemsli“ in Oberterzen würde erschrecken, wenn ich Schnitzel mit Pommes-frites bestellte. Oder sonst einen Leckerbissen aus der Karte.
Das Kartenspiel der Männer am Nebentisch ist fertig. Ausgejasst. Die vier wollen aufbrechen. Da kommen zwei Teenager herein. Ein junges Mädchen und ein Bursche. Seit kurzem ein Paar, wie ich höre, seit wenigen Tagen. Man fragt sie aus, der Junge berichtet, dass der Ex-Freund seines Mädchens ihn nicht mehr grüsse. Der war schon immer arrogant, sagt einer der Jasser. Das Mädchen ist die Tochter der Frau vom Stammtisch, die auch serviert, wenn es sein muss. Es muss sein, denn die Wirtin arbeitet noch immer an meinem Wurst-Käse-Salat.
Einer fragt den Jungen, ob es ihm nicht peinlich sei, über sein Liebesleben zu berichten. Dieser rückt seine Baseball-Mütze zurecht und sagt, er rede gern darüber. Das Mädchen steht hinter der Theke und telefoniert mit ihrem Ex.
Da kommt Albert, setzt sich an den Stammtisch. Kurze Haare, kräftige Nase, derbe Schuhe. Er erzählt etwas. Einer der Jasser steht auf, holt eine Handorgel und stellt sie Albert auf den Schoss und sagt:«Spielen, nicht schwatzen.» Albert greift in die Tasten.
Liederabend, Witze
Ländler. Lieder. Albert singt, und die anderen singen mit. Immer wieder neue Lieder. Schlager, Ländler, Liebeslieder. Und dann «s´Träumli». «S´isch jo nur äs chliises Träumli gsi …» Zwischendurch erzählt Albert Witze: Gion-Gieri und Crescenza haben geheiratet, liegen in der Hochzeitsnacht nebeneinander im Bett. Crescenza: Du, Gion-Gieri, es ist unsere Hochzeitsnacht, rück näher. Gion-Gieri rückt näher. Du, Gion-Gieri, es ist unsere Hochzeitsnacht, streichle mich doch. Gion-Gieri streichelt Crescenza. Gion-Gieri: Du, Crescenza, es ist unsere Hochzeitsnacht, zieh Deinen Pullover aus. Gion-Gieri regt sich nicht. Da reisst Crescenza an seinem Pullover. Gion-Gieri: «Das ist kein Pullover, das ist mein Ekzem.» Alle lachen. «Spiel nochmals das Träumli.» Albert greift zur Handorgel, spielt, doch da spickt eine Taste raus.
«So kann ich nicht mehr spielen. Man muss das Ding flicken.»
Nun ist auch das Handorgel-Spiel aus. Die Jasser stehen auf und gehen heim.
(Oberterzen, 18. Juli 2002)