Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat Russland am Donnerstag wegen der massenhaften Ausweisung von Georgiern in den Jahren 2006 und 2007 verurteilt. Der Gerichtshof gab Georgien Recht, das gegen Moskau eine Staatenklage eingereicht hatte.
Russland habe damals eine «koordinierte Politik der Festnahmen, Verhaftungen und Ausweisungen» gegen Georgier geführt. Die Vorfälle ereigneten sich von Ende September 2006 bis Ende Januar 2007 – knapp zwei Jahre vor dem bewaffneten Konflikt mit Russland um die abtrünnigen georgischen Regionen Südossetien und Abchasien.
Moskau hatte damals auf die Festnahme und Ausweisung von vier russischen Offizieren aus Georgien reagiert, denen die Regierung in Tiflis Spionage vorwarf. Nach georgischen Angaben ordneten die russischen Behörden im fraglichen Zeitraum mehr als 4600 Ausweisungen an.
Zahlreiche Grundrechte verletzt
Die Richter in Strassburg urteilten nun, dass Russland mit seinem «willkürlichen» Vorgehen unter anderem gegen das Verbot menschenunwürdiger Behandlung, kollektiver Ausweisungen ohne Einzelfallprüfung sowie gegen die Grundrechte auf Freiheit, Sicherheit und einen fairen Prozess verstossen habe.
«Im Herbst 2006 haben die russischen Behörden gezielt georgische Staatsangehörige festgenommen, inhaftiert und ausgewiesen», lautete die Schlussfolgerung der Menschenrechts-Richter. Dem Urteil zufolge blieben Georgier bis zu zwei Wochen in Abschiebehaft, wo sie in verdreckten und überfüllten Zellen eingepfercht waren und nicht ausreichend ernährt wurden.
Die Regierung in Tiflis legte dem Gerichtshof auch Anweisungen russischer Behörden an Schulen vor, georgische Kinder zu identifizieren. Zu den Vorgängen hörte der Gerichtshof in Strassburg 21 Zeugen und stützte sich auf Berichte internationaler Organisationen.
«Kampf gegen illegale Einwanderung»
Der Europarat und Menschenrechtsorganisation hatten Moskau bereits zur Zeit der Abschiebungen vorgeworfen, in Russland lebende Georgier systematisch zu schikanieren und willkürlich festzunehmen. In einem Bericht des Europarats ist auch von vier Georgiern die Rede, die während der Abschiebehaft gestorben sind.
Russland machte in dem Verfahren geltend, die Abschiebungen seien im Zuge des Kampfes gegen illegale Einwanderung erfolgt. Die russischen Behörden weigerten sich aber, dem Gerichtshof die entsprechenden Rundschreiben des Innenministeriums vorzulegen, weil diese als «geheim» eingestuft seien.
Damit verstiess Russland dem Urteil zufolge ausserdem gegen die Verpflichtung, dem Strassburger Gericht alle notwendigen Unterlagen zur Verfügung zu stellen.
Einigung oder Schmerzensgeld
Das Urteil wurde von der aus 17 Richtern bestehenden Grossen Kammer gefällt und ist somit rechtskräftig. Der russische Richter hatte nicht für das Urteil gestimmt.
Der Gerichtshof gab beiden Parteien ein Jahr Zeit, um eine gütliche Einigung über die Entschädigung der Betroffenen zu finden. Gelingt dies nicht, können die Richter die Höhe des Schmerzensgeldes festsetzen.
Klagen von Staaten gegeneinander sind in Strassburg äusserst selten. Vor dem EGMR ist noch eine zweite Beschwerde Georgiens gegen Moskau anhängig. Dabei geht es um Übergriffe auf Zivilisten nach dem fünftägigen Krieg um die abtrünnige Provinz Südossetien im Sommer 2008.