Valentin Stocker will sich entfalten und Räume schaffen. Der sensible Nationalspieler hält in Berlin viel aus, um seinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden.
Valentin Stocker lässt schwierige Gedanken und Einschätzungen zu. Von ihm stammen folgende selbstreflexive Auszüge: «Ich bin kein Roboter.» Oder: «In der Beurteilung von mir gibt es nur immer zwei Varianten – extrem gut, extrem schlecht.» Oder: «Manchmal bin ich der Retter, dann plötzlich der Amateur.» Oder: «Ich bin oft auf der Suche nach Antworten.» Der 27-Jährige assoziiert die Aussagen nicht immer mit konkreten Ereignissen, sie sind eher persönliche Fragmente einer über achtjährigen Profi-Ära.
Schemen machen Stocker Mühe. Er nimmt sich die Freiheit, unbequeme Fragen zu stellen, Abläufe zu kritisieren, sich zumindest intern zu exponieren. Im verhältnismässig hohen Lohn seien Schmerzen zwar inbegriffen, aber nicht der Zwang, alles zu schlucken, widerstandslos zu funktionieren, findet er.
Vielleicht ist zur Schärfung des Profils ein Rückblick auf Stockers Zeit unmittelbar vor dem Durchbruch in Basel nötig. Im Alter von 18 Jahren überstand der Innerschweizer den Cut. Mit dem Trainer-Patron Christian Gross rieb er sich schon bald einmal. «In den ersten Monaten habe ich nur eingesteckt.» Der mächtige Zürcher verordnete dem unbekümmerten Nachwuchsspieler «Kreativpausen» – der Betroffene musste schweigen.
«Von aussen haben mich die Leute als Winner-Typ wahrgenommen, als einen, der sich locker und fröhlich aufmachte, die Fussballwelt zu erobern», schweift Stocker in einem persönlichen Gespräch gedanklich weit zurück. In Tat und Wahrheit fühlte ich mich damals nicht als Sieger, sondern wie einer, der schon richtig Schläge kassiert hat.“ Er habe relativ schnell einmal die unsentimentale Kehrseite des Geschäfts kennengelernt.
Gross ging 2009, Stocker blieb. Dann das Déjà-vu im Nationalteam. Zum Start der Ära von Ottmar Hitzfeld beim Nati-Debüt das erste Tor, die epochale 1:2-Blamage gegen Luxemburg im dritten Länderspiel, nur noch weitere 45 Minuten in den nächsten knapp zwei SFV-Saisons. Missverständnisse, Irritationen, Brüche, Ausladungen, Vorwürfe. Stocker wundert sich: «An mir blieben gewisse Dinge einfach immer länger hängen.» Die Geschichte wiederholt sich – die erste WM-Endrunde endet für ihn nach einer ungenügenden ersten Hälfte gegen Ecuador.
Nach Rio der nächste Taucher. Hertha statt FCB. Sportchef Michael Preetz kündigt einen «Königstransfer an». Doch der Schweizer wird im Stahlbad Bundesliga im Frühherbst 2014 von Jos Luhukay erstmals kommentarlos versenkt. Vorgesehen ist ein schlagzeilenträchtiges Debüt im Olympiastadion, stattdessen müht sich der mehrfache Champions-League-Teilnehmer plötzlich in der 4. Liga im Reserve-Team ab. Kleinkunst vor bestenfalls 150 Zuschauern, zermürbende Strafaufgaben im Berliner Hinterhof.
Der missratene Auftakt hallt nach, bis zum heutigen Tag wird die Demütigung dann und wann zum Thema: «Ich weiss noch immer nicht, was genau falsch gelaufen ist.» Die Ankunft wurde vertagt, Stocker verschwand vorläufig vom internationalen Radar. Vergessen hat er kein Detail, keinen Buchstaben, keine Geste, keine Absichtserklärung. «Es war paradox, das würde ich in dieser Form nicht mehr mitmachen. » Er glaubt im Nachhinein, in einem Machtspiel zwischen die Fronten geraten zu sein.
Die Freistellung Luhukays vereinfacht den Entscheid von Stocker, das Stadion-Monument nicht nur durch den Lieferantenausgang zu verlassen. Nach den Downs häufen sich die Ups temporär wieder. Glücksmomente keimen auf, Stocker erkennt Lichtstrahlen. Pal Dardai, der neue ungarische Taktgeber, macht ihm zuerst Mut, ehe er auf andere Zugpferde setzt. Die Hertha gewinnt, Stocker schaut zu.
«Bin ich zu wenig egoistisch veranlagt? » Selbstzweifel nagen an ihm. Anmerken lässt sich Stocker nichts. Er verdoppelt den Aufwand, drängt sich auf, weil er nicht flüchten will vor den Problemen: «Ich wollte es in erster Linie mir selber beweisen, es hier zu schaffen – niemandem sonst!» Comeback, entscheidende Tore, perfekte Dribblings, stille Genugtuung.
«Dafür lebt man ja als Fussballer eigentlich.» Für die Emotionen, für Sekundenbruchteile einer genialen Aktion. «Spass, Bewegung, Gefühle.» Kindheitserinnerungen flackern auf: «Das war einst der Antrieb, die Leidenschaft für etwas, das mich ausfüllte, das mir Energie gab, das mir Räume öffnete.» Manchmal tauscht er sich mit seinem Mentalcoach aus, manchmal erörtert Stocker die allgemeine Lage mit seiner Freundin.
Und wie fühlt sich das eigene Standing in der dritten Saison an? Stocker überlegt nicht lange: «Gut, sehr gut.» Dann schiebt er nach: «Es geht ja vielen gleich wie mir.» So gut die Platzierung in der Tabelle ist, so unberechenbar bleibt für ein paar Herthaner die Kursführung. Trainer Dardai geht eigene Wege, sein System gilt, seine Regeln sind zu befolgen. «Business.» Gut, wer den Mund halten könne, «sonst wird es schwierig in diesem Beruf.»
An ungemütlichen Tagen kommt ihm dann und wann die beste Zeit seines bisherigen Sportlerlebens in den Sinn: «Die beiden Jahre in Basel mit Thorsten Fink. Der Spirit, die Nähe im Team. Wer so etwas nie erlebt hat, begreift nicht, was ich meine.» 25 Tore schoss er in 24 wunderbaren Monaten. Alles im Flow: «Wir hatten eine Menge Spass. Wird es je wieder so sein?»
So gedankenlos, unbeschwert, losgelöst? Stocker hält inne, setzt sich die Baseball-Mütze auf, lehnt sich zurück, blickt ein paar Tage vor dem WM-Ausscheidungsspiel gegen die Färöer zur Zimmerdecke und sinniert. Findet er den Tritt auch im Nationalteam erneut? Gelingt es, alles richtig einzuordnen, ohne in Atemnot zu geraten? «Ich versuche, mir nicht allzu viele Gedanken zu machen.» Wohl aus Selbstschutz.