Vor Weihnachten folgt meist dem Armutsbericht die Liste der 300 Reichsten. Charles Dickens hätte seine helle Freude daran. Die Geschichten, die ihm dazu einfielen, sehen wir gerne zur Weihnachtszeit.
Kommt ein Mensch mit Vernunft ohne Raub zu viel Geld? Oder raubt zu viel Geld einem Menschen die Vernunft? Charles Dickens hat Zeit seines Lebens über Besitzstände und deren Folgen für die Sitten und die Moral nachgedacht. Es erstaunt also nicht, wenn seine Geschichten besonders zu Zeiten beliebt sind, wo der Armutsbericht und die Liste der 300 Reichsten veröffentlicht werden: Zu Weihnachten. Zur Geburtszeit des Jesuskindes erinnern sich die Menschen gern daran, dass sie vor Gott alle gleich sind. Wären da nicht die Besitztümer.
Darf ein Mensch mit einem Makel ins Leben geschickt werden, sei es an Stand, oder an Bildung, oder an Geschlecht? In «Great Expectations» variiert Dickens die Frage gleich mehrfach. Er verpackt seine Antwort in eine Liebesgeschichte, indem er die Lehrjahre eines Liebespaares schildert, dessen Herkunft, Erziehung, Bildung und Lebensweg unterschiedlicher nicht sein könnten.
Pip, der bei rechtschaffenen Pflegeeltern lebt, wird von einem entflohenen Sträfling gezwungen, Esswaren aus der Vorratskammer seiner Pflegeeltern zu stehlen. Jahre später wird er von diesem Sträfling aus der rechtschaffenen Armut als Arbeitender in ein bequemes Leben in Wohlstand katapultiert.
Pip lernt, im Genuss eines ansehnlichen Vermögens, die Besitzenden kennen. Er führt das Leben eines Gentleman, lernt deren Sitten kennen – und auch seine Liebe. Er trifft Estella, die er in der Armut kennen gelernt hatte, wieder. Sie, die Pflegetochter der Nachbarin, die sich zeitlebens nicht aus ihren Wänden bewegt hatte, lässt ihn in der Londoner High Society abblitzen.
Auch Estella lebt, wie er, in der Zwischenzeit in Saus. Beide bleiben sie aber, mit ihrer Bildung und ihrer Herkunft Fremde in dieser Welt der Besitzenden. Estella bricht Pip das Herz, wie es sie von ihrer rachsüchtigen Erzieherin gelernt hat. Sie heiratet den reichsten Mann Londons. Pip verarmt, weil er seinem heimlichen Gönner – ein zweites Mal – hilft, diesmal mit verheerenden Folgen.
David Lean hat 1945 in seiner stark verdichteten Version den Beziehungsreichtum der Geschichte eingedampft. Er hat sich ganz auf die Leibesgeschichte konzentriert. Die lange Fassung von Nike Newell, der schon mit «Harry Potter» und «Vier Hochzeiten und ein Todesfall» zu unterhalten wusste, folgt ihm darin nur teilweise. Er öffnet die Seitenstränge des Buches. Er folgt dabei durchaus der – expressionistischeren – Bildsprache Leans.
Er erweitert sie aber mehrfach um eine lebendigere Figurensicht, gibt den Schauspielerinnen mehr Raum. Allen voran Ralph Fiennes, der der finsteren Figur des Magwitch viele Nuancen eines gesellschaftlichen Outlaws abgewinnt, in dessen Kern sich eine hehre Moral verbirgt. Jeremy Irvine und Olly Alexander komplettieren einen Cast aus dem unerschöpflichen Reservoir der britischen Schauspielergilde.
Robbie Coltrane, den wir aus «Fitz» noch kennen, setzt dem unbestechlichen Dickens einen Sockel unter sein Alter Ego: Als Anwalt Jaggers waltet er als unerbittliche Hand des Schicksals. Er verwaltet ebenso hintersinnig den Besitz, wie er die Armut bekämpft. Ein Mann, dessen Vernunft nicht nach Geld strebt, aber jeden Raub bekämpft.