Das Nein der griechischen Bevölkerung zu den Sparplänen aus Brüssel ist ein historischer Entscheid, schreibt der Aargauer SP-Nationalrat Cédric Wermuth – und eine Chance für Europa.
Kein Zweifel: Das deutliche Nein des griechischen Volkes am vergangenen Sonntag ist historisch. Es ist ein Nein zur Weiterführung des neoliberalen Wirtschaftsprogramms der Euro-Gruppe. Zum ersten Mal seit 2008 hat eine Bevölkerung in dieser Deutlichkeit die gescheiterte Politik von Lohnkürzungen, Sozialabbau und Privatisierungen auf dem Buckel der grossen Mehrheit abgelehnt.
Und dies, obwohl den Griechinnen und Griechen mit allen Übeln gedroht worden war: mit dem Rauswurf aus dem Euro – obwohl das rechtlich umstritten ist – und sogar mit dem Rauswurf aus der EU, mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Katastrophe schlechthin. Am Sonntag konnte man Zeitungstitel lesen wie: «Wer Angst hat, stimmt Ja.» Es brauchte viel Mut, in diesem Moment Nein anzukreuzen.
Bestätigung für Politik gegen Austerität
Zuletzt gelang es der Troika auch nicht, das Referendum für illegitim zu erklären. Witzigerweise war es der griechische Oppositionsführer Samaras, der diesen Versuch der Troika verhinderte. Er trat kurz nach Bekanntgabe des Resultats zurück und verlieh dem Referendum damit ex post die Qualität einer (legitimen) Amtsbestätigung der Syriza-Regierung.
Mehr noch: Samaras rief nach dem Referendum explizit die Eurogruppe dazu auf, mit Tsipras nach einer «tragfähigen Lösung» zu suchen. Das hätte er kaum getan, wenn er Zweifel hätte an der Unzweideutigkeit der Willensäusserung in seinem Land.
Damit hat Griechenland als erstes Land in Europa seit der Finanzkrise eine Regierung bestätigt, die die Austeritätspolitik prinzipiell in Frage stellt – und sich im Gegensatz zu Gabriel in Deutschland, Hollande in Frankreich und Renzi in Italien auch nach dem Wahltag noch daran erinnert hat. Das kann Hoffnung wecken für das europäische Projekt, muss es aber nicht.
Dank dem Nein vom Sonntag keimt die Hoffnung, dass es ein anderes Europa gibt.
Die grosse Chance besteht darin, Europa wieder mit einem Inhalt zu füllen, mit dem sich die Menschen identifizieren können, von dem sie sich berechtigterweise eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erwarten dürfen. Merkel, Schäuble und die Eurogruppe hatten es zuletzt geschafft, diese grossartige Idee von Europa zu demolieren, wie niemand vor ihnen. Ihre strikte Weigerung, das offensichtliche Scheitern ihrer Politik anzuerkennen, hat die extreme anti-europäische Rechte bestätigt, die nun laut ruft, Europa sei undemokratisch, höre nicht auf die Menschen, sei nicht am Schicksal seiner Bürgerinnen und Bürger interessiert und seine politische Elite habe mehr Interesse daran, die Banken zu retten als ihre Bevölkerung.
Wer die Griechenland-Politik von Merkel und Co. wie bisher weiterführen will, stärkt damit nur Parteien wie die AfD, den Front National und Populisten wie Geert Wilders auf unserem Kontinent und macht schlussendlich Europa kaputt. Alle anderen hingegen, denen Europa etwas bedeutet, müssen Griechenland und seiner Regierung zutiefst dankbar sein: Dank dem Nein vom Sonntag keimt zumindest so etwas wie Hoffnung, dass es ein anderes Europa gibt.
Welches Europa wollen wir?
Das Referendum hat die Ausgangslage umkehrt: Es liegt nun an der EU-Kommission, den Finanzministern und dem IWF zu beweisen, dass sie mit Demokratie umgehen können. Der neoliberale Versuch, wirtschaftspolitische Massnahmen als etwas zu betrachten, worüber man nicht diskutieren und was man auch nicht demokratisch zu legitimieren braucht, ist gescheitert.
Der griechischen Regierung ist es mit dem Referendum gelungen, endlich die Frage wieder richtig herum zu stellen: Anstatt der dichotomen Alternative zwischen «neoliberales Europa» und «kein Europa» steht nun endlich wieder die Frage im Zentrum: Welches Europa wollen wir? Oder anders formuliert: Tsipras und Varoufakis haben aus der Europafrage wieder das gemacht, was sie sein sollte: eine politische Frage danach, wie wir unsere Gesellschaft organisieren wollen.
Europa kommt dann aus der Krise, wenn sich das Europa der Menschen gegen das Europa der Finanzmärkte durchsetzt.
Und genau darin liegt die Chance, den gordischen Knoten, an dem wir alle seit 2008 herumnesteln, zu zerhauen. Europa kommt dann aus der Krise, wenn sich das Europa der Menschen gegen das Europa der Finanzmärkte durchsetzt. Das liegt lange nicht alleine in der Kraft der Griechinnen und Griechen. Vielmehr braucht es jetzt die gemeinsame Anstrengung aller Pro-Europäer.
Zuerst muss es nun darum gehen, die Forderung des griechischen Volkes nach einem würdigen Dasein in Europa wahr zu machen. Der Weg dahin ist auch klar: Griechenland braucht einen Schuldenschnitt und ein Investitionsprogramm. Und natürlich: Reformen. Aber nicht jene, die seit 2008 so dramatisch gescheitert sind, sondern echte Reformen zugunsten der demokratischen Stabilität und der Menschen.
Wo die Macht hingehört
Die Syriza-Regierung braucht vor allem Unterstützung darin, ihren Staatsapparat von der jahrzehntelangen Klientelwirtschaft der Vorgängerparteien zu reinigen und der humanitären Krise zu begegnen. Und Europa muss seinerseits die Voraussetzungen schaffen, künftige Krisen demokratisch zu überwinden.
Dafür braucht es eine Korrektur der Fehlkonstruktion des Euro. Eine gemeinsame Währung ohne demokratische Kontrolle und ohne wirtschaftspolitischen Ausgleich zwischen den Ländern war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Und zweitens muss die politische Macht in Brüssel über Entscheide von der Tragweite der Troika-Beschlüsse weg von den Technokraten, dahin wo sie hingehört: In die Hände eines Parlaments und einer Regierung, die man wählen und abwählen kann.