Beide sind als begnadete Skorer bekannt, beide besitzen im Klub den Status von nahezu Unersetzlichen, aber ihr Weg an der EM verläuft komplett anders: Antoine Griezmann vs. Thomas Müller.
Im Halbfinal in Marseille begegnen sich die Top-Stürmer unter speziellen Voraussetzungen. Antoine Griezmann wird plötzlich in ganz Frankreich als Erfolgsgarant bejubelt, der deutsche Weltmeister Thomas Müller hingegen muss wegen einer persönlichen Flaute zur Unzeit kritische Fragen beantworten.
Hinter den spannenden Figuren stecken zwei unterschiedliche Entwürfe. Von glücklichen Fügungen, heiklen Warteschlaufen, Zufällen und Momentaufnahmen.
Hype um Griezmann
Mit einer Packung Vitamin B hat nie jemand auf Griezmann gewartet. Im Gegenteil: Als der schmächtige Bub noch für die Union du Football Mâconnais spielte, versucht ihn ein lokaler Talentspäher vergeblich bei Lyon unterzubringen. Während fünf Monaten spielt er einmal pro Woche in der 55 Autominuten entfernten Stadt vor – ergebnislos, zu klein, zu fragil.
Lyons Nachwuchschef Gérard Bonneau bedauert, das Talent verkannt zu haben. Real Sociedad San Sebastian profitierte von der Fehleinschätzung und formte das Leichtgewicht, bei Atletico Madrid wurde er zur Grösse in der Primera Division. Diego Simeone machte den Begabten zu einem Spieler, der auch bis zur Schmerzgrenze leiden kann und inzwischen 80 Millionen Euro wert ist. Nie war der Hype um ihn grösser als jetzt. «Grizou» ist zum Hoffnungsträger der französischen Fussball-Nation aufgestiegen.
Mit vier Treffern führt er das Turnier-Ranking der Stürmer an. Primär dank seiner Klasse haben «Les Bleus» Fahrt aufgenommen, er lenkt sie, seine Magie, seine unberechenbare Raffinesse erinnert an Michel Platini, den letzten französischen EM-Topskorer.
Vorgespurt war nichts, Griezmann, der Junge ohne idyllische Kindheit, hätte als früh Entwurzelter auch im Baskenland scheitern können. Seine Schwester Maud erinnert sich in einem Interview mit der «L’Equipe» an die schmerzhaften Abschiedsszenen am Flughafen von Lyon: «Es ging ihm nicht gut, er weinte, weil er wohl realisierte, dass er uns nicht mehr so schnell sehen würde.» Er habe auf seine Kindheit verzichtet.
Im letzten November, Frankreich testete gegen Deutschland, erschütterten Anschläge von IS-Terroristen die Stadt Paris. Griezmann spürte die blanke Ohnmacht. Wenig später erfuhr er, dass Maud sich im Konzertsaal Bataclan aufgehalten hatte, wo 90 Menschen starben. Sie überlebte, Antoine tippte zitternd SMS: «Gott sei Dank, meine Schwester konnte flüchten.»
Ohne sie wäre er wohl nicht eines der Gesichter der EM, sondern ein gebrochener junger Mann, der nach der Kindheit auch einen Teil der Familien verloren hat.
Sendepause bei «Radio Müller»
Umwege hat Müller in seiner Karriere ganz selten machen müssen. Im Alter von 11 trat der Gymnasiast in den FC Bayern München ein, 2008 debütierte er in der 1. Bundesliga, unter Louis van Gaal schaffte der unbekümmerte Aufsteiger den Durchbruch. Für den knorrigen Niederländer war der Naturbursche ziemlich schnell unverzichtbar: «Müller spielt immer.»
Eine Flut von Pokalen, persönliche Ehrungen und 2014 der WM-Titel – der Lieblings-Müller der Nation stürmte nur in eine Richtung: nach ganz oben. Und ihm gelang, worum ihn viele beneideten. Er verlor in der Welt der narzisstischen Millionäre weder die Bodenhaftung noch den Humor. Nach dem Tor war vor dem nächsten Quatsch.
Die «Süddeutsche» weiss, dass der ewige Bayern-Assistent und Förderer Hermann Gerland für ihn eigens den Begriff «Radio Müller» entworfen hat: Immer auf Sendung, immer bereit, nie um einen guten Spruch verlegen, einer für gehobene Unterhaltung eben – auf dem Platz und ausserhalb gleichermassen.
Kaum Schüsse, kein Tor, eine Bilanz gegen null. Der beste deutsche Skorer der letzten beiden WM-Turniere (10 Treffer) wartet nach wie vor auf seine EM-Tor-Premiere. Die im Normalfall nicht sonderlich zurückhaltenden medialen Beobachter gehen indes weiterhin behutsam mit ihm um; es ist lediglich von einer «Torschaffenskrise» die Rede.
Joachim Löw lenkt ab, nimmt Druck weg: «Er macht unglaubliche Wege für die Mannschaft.» Der Betroffene, im Nationalteam mit 32 Treffern in 76 Spielen, redet sich selber gut zu: «Tore sind nicht mein Benzin, eher der Lack auf dem Auto, der Speziallack, der nach aussen gut aussieht.»
Zumindest der Lack der Unbeschwertheit ist etwas ab. Müller sehnt sich nach einem Augenblick der Ruhe. Die Termine, die permanente Beschallung, die fehlenden Auszeiten seien spürbar. «Das Geschäft ist nervenaufreibend», gibt er zu. «Du schnappst einmal nach Luft und wirst wieder unter Wasser gedrückt.»