Die medizinische Grundversorgung erhält Verfassungsrang. Der Gegenvorschlag zur zurückgezogenen Hausarzt-Initiative ist mit 88 Prozent Ja-Stimmen deutlich angenommen worden. Die konkreten Auswirkungen des neuen Verfassungsartikels dürften sich in Grenzen halten.
Entsprechend schwach war der Widerstand: Rund 2’479’000 Stimmberechtigte sagten Ja, nur rund 337’000 legten ein Nein in die Urne. Kein einziger Kanton hat den neuen Verfassungsartikel abgelehnt, mit 19 Prozent war das Nein-Lager in Schwyz am grössten. Die Westschweiz sagte mit über 90 Prozent Ja, Neuenburg mit 93,7 Prozent am deutlichsten.
Auch die Parteien hatten sich für die Vorlage ausgesprochen – mit Ausnahme der SVP. Diese hatte erst kurz vor der Abstimmung ein Nein-Komitee auf die Beine gestellt, welchem rund 20 Ärzte angehörten. Deren Warnungen vor Staatsmedizin, Fehldiagnosen und eingeschränkter Arztwahl verhallten offenbar weitgehend ungehört.
Neu verlangt die Verfassung, dass Bund und Kantone für eine ausreichende, allen zugängliche medizinische Grundversorgung von hoher Qualität sorgen und die Hausarztmedizin als wesentlichen Bestandteil fördern müssen. Der Bund soll Vorschriften über Aus- und Weiterbildung sowie die Berufsanforderungen für die Grundversorger erlassen. Zudem muss er die angemessene Abgeltung von Leistungen der Hausarztmedizin regeln.
Entscheidender Masterplan
Es handelt sich im Wesentlich um programmatische Bestimmungen, die weder neue Leistungspflichten begründen noch an der Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen rütteln. Es bleibt Aufgabe von Kantonen und Gemeinden, die Grundversorgung sicherzustellen. Bei Aus- und Weiterbildung sowie bei der Abgeltung von Leistungen erhält der Bund jedoch zusätzliche Kompetenzen.
Der Komiteepräsident der Hausarzt-Initiative sprach dennoch von einem «Systemwechsel». In den letzten Jahren hätten Spezialisten und Spitäler eine immer grössere Rolle eingenommen, sagte Jürg Tschudi zur sda. Nun würden die medizinischen Grundversorger gestärkt.
Initianten zufrieden
Die Initiative wäre wesentlich weiter gegangen. Insbesondere hätten Bund und Kantone für eine ausgewogene regionale Verteilung der Hausarztmedizin zu sorgen müssen. Dennoch zog das Komitee seine Initiative letzten Herbst zurück, da es viele seiner Forderungen als erfüllt ansah.
Dieser Entscheid sei richtig gewesen, sagte Tschudi. Die Initiative habe aber den nötigen Druck für die Reformen erzeugt. Wie Tschudi erfreut über das Ergebnis zeigten sich auch der Ärzteverband FMH und weitere Berufsverbände des Gesundheitswesens.
Den Ausschlag für den Rückzug dürfte weniger der nun angenommene Verfassungsartikel als der «Masterplan Hausarztmedizin und medizinische Grundversorgung» gegeben haben, den Gesundheitsminister Alain Berset 2012 ins Leben gerufen hatte. Zu diesem gehört eine Teilrevision des Ärztetarifs Tarmed, die den Hausärzten auf Kosten von Spezialisten 200 Millionen Franken mehr pro Jahr einbringen soll.
Kantone gefordert
Ausserdem sollen im revidierten Medizinalberufegesetz medizinische Grundversorgung und Hausarztmedizin als Ziele von Aus- und Weiterbildung von Ärzten, Apothekern, Zahnärzten und Chiropraktoren festgeschrieben werden. Andere Massnahmen – etwa die Schaffung von Anreizen für Ärzte, die sich auf dem Land niederzulassen – müssen die Kantone anpacken. Diese sind auch bei der Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze für Ärzte gefordert.
Nach Bersets Einschätzung hat auch der neue Verfassungsartikel grosse Bedeutung. Mit diesem könne die Grundversorgung auf die Herausforderungen der Zukunft ausgerichtet werden, argumentiert er. Eine grosse Herausforderungen sieht der Gesundheitsminister darin, dass die Bevölkerung älter wird und die Zahl der Patientinnen und Patienten mit chronischen Krankheiten weiter steigen wird.
In der deutlichen Annahme der Verfassungsbestimmung erkennt Berset der Wunsch, Bund und Kantonen die Mittel zu geben, diesen Herausforderungen zu begegnen, wie er am Sonntag vor den Bundeshausmedien sagte. Mit dem Entscheid sei sichergestellt, dass alle Menschen in allen Regionen der Schweiz schnell und gut medizinisch versorgt werden könnten.
Spitäler wollen gleich lange Spiesse
Der Spitalverband H+ rief angesichts des neuen Status der Hausarztmedizin zu Gleichbehandlung aller Leistungserbringer auf – unabhängig vom Ort, der Struktur oder der rechtlichen Organisation. Gleiche Leistungen müssten gleich abgegolten werden.
Der Krankenkassenverband santésuisse legte in seiner Reaktion den Fokus auf die Kosten. Der Verfassungszusatz dürfe nicht zu einer Kostensteigerung führen, sagte santésuisse-Sprecher Christophe Kaempf.
Die Gegner der Vorlage hatten einen schweren Stand. Dass das Gegenkomitee sich erst im letzten Moment bildete, spielt aus Sicht ihres Exponenten Toni Bortoluzzi keine entscheidende Rolle: Vielleicht wäre die Zustimmung etwas wenig hoch ausgefallen, sagte der Zürcher SVP-Nationalrat. Der Verfassungszusatz stärke die staatliche Rolle im Gesundheitswesen – was er bedauere.