Die 16 Opfer im Berner Heiler-Prozess haben eng verwandte HI-Viren mit demselben Stammbaum. Das erklärte der Autor des sogenannten phylogenetischen Gutachtens am Donnerstag vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland.
Er geht aufgrund seiner Untersuchungen davon aus, dass die Infizierungen alle auf dieselbe Quelle zurückzuführen sind. Das bedeutet, dass das Gericht sein Gutachten als belastendes Element werten könnte. Ein Beweis für die Schuld des angeklagten „Heilers“ ist es aber nicht, wie aus den Ausführungen hervorging.
Trotzdem hat die Verteidigung schon im Vorfeld des Prozesses mehrmals Zweifel am Gutachten geäussert und ihm einen vorverurteilenden Charakter unterstellt. Der Forderung nach einem unabhängigen Zweitgutachten aus dem Ausland kam das Gericht bislang nicht nach.
„Nach bestem Wissen und Gewissen“
Der Experte, Jürg Schüpbach vom Nationalen Zentrum für Retroviren der Universität Zürich, wehrte sich vehement gegen den Vorwurf der Voreingenommenheit. Er habe das Gutachten keineswegs unter der Annahme erstellt, dass der Beschuldigte tatsächlich der Täter sei.
Ganz im Gegenteil: Als ihn die Berner Untersuchungsbehörden mit dem Heiler-Fall konfrontiert hätten, habe er sich als Erstes gedacht: „Das kann ja nicht sein, dass jemand so etwas tut.“ Das Gutachten habe er zusammen mit seinem Team wie immer „nach bestem Wissen und Gewissen“ erstellt.
Über 20 Infizierte
Im Heiler-Fall wurden die Viren von 21 oder 22 Infizierten untersucht; die exakte Zahl ist unklar. Mit einer Ausnahme gab es durchwegs eine enge Verwandtschaft der Viren. Doch 3 Infizierte – offenbar aus dem familiären Umfeld des Angeklagten – befinden sich nicht mehr in der Schweiz.
2 oder 3 weitere konnten offensichtlich nicht identifiziert werden, denn das Inselspital anonymisierte bekanntlich die weitergeleiteten Proben. Es blieb den Betroffenen überlassen, sich aktiv bei den Untersuchungsbehörden zu melden. So bleibt es letztlich bei 16 Opfern im laufenden Prozess.
Nur ein „Reservoir“
Für Gutachter Schüpbach ist aufgrund der Viren-Verwandtschaft naheliegend, dass das verseuchte Blut aus ein- und demselben „Reservoir“ stammen muss. Die Viren hätten sich kaum verändert, obwohl die Infizierungen zeitlich deutlich auseinanderlagen.
Ob das verseuchte Blut kühl gelagert oder jeweils „frisch gezapft“ wurde, ist laut Gutachten offen. Naheliegend sei, dass das Blut den Opfern gespritzt worden sei. Eine Infizierung zum Beispiel über eine Akupunkturnadel sei wenig wahrscheinlich.
Heiler als gemeinsamer Bekannter
Nicht ausschliessen kann der Gutachter, dass einzelne Opfer sich gegenseitig zum Beispiel durch Geschlechtsverkehr ansteckten. Theoretisch sei das möglich. Die Frage müsse letztlich das Gericht beantworten.
Nach bisherigem Erkenntnisstand kennen sich die meisten Opfer nicht. Gemeinsam ist ihnen einzig ein Bezug zum „Heiler“.
Der 54-jährige „Heiler“ verfolgte die Ausführungen des Gutachters im Gerichtssaal. Selber wird er sich voraussichtlich am kommenden Montag äussern. Bis dahin werden weitere Opfer aussagen.