Schriftsteller Salman Rushdie («Satanische Verse») lebte wegen einer Fatwa jahrelang im Versteck und unter falschem Namen. Nun erzählt er in seiner Autobiografie «Joseph Anton» davon – und hofft, wieder ein normales Leben führen zu können. Eine Begegnung.
Salman Rushdie ist bereit für seine nächste Rolle. «Ich werde Marlon Brando mit einem Turban sein», sagt er. Eine Freundin möchte, dass er in ihrem neuen Film über sich bekämpfende Sikh-Banden in Kanada einen alternden Paten spielt. «Ich möchte das wirklich machen. Es wird ein Tarantino mit braunhäutigen Menschen», sagt Rushdie. Es ist nicht das erste Mal, dass er die Rolle eines Bösewichts angeboten bekommt. Auch Paul Auster wollte ihn in seinem Film «Lulu on the Bridge» als Schurken besetzen. Und der französische Literat und Regisseur Alain Robbe-Grillet bot ihm an, einen undurchsichtigen Arzt zu spielen. «Vielleicht sahen sie etwas Böses in mir», sagt Rushdie und lacht, während wir zum Büro seines Agenten spazieren. Er lehnte beide Male ab.
Wir treffen uns, um über Rushdies bislang längste Rolle zu sprechen: 13 Jahre spielte er eine Figur namens Joseph Anton. Das war das Pseudonym, das er annahm, nachdem Ajatollah Chomenei am Valentinstag 1989 eine Todesfatwa gegen ihn verhängt hatte. Die Beamten, die für seine Sicherheit zuständig waren, rieten ihm zu dem Namenswechsel, als er eine neue Wohnung bezog. «Es wäre wahrscheinlich besser, keinen indischen Namen zu nehmen», sagte ein Bodyguard. Und so wurde er zu einem «unsichtbaren Mann mit einer weissen Maske». Joseph wie Conrad, Anton wie Tschechow. Bis die gepanzerten Limousinen der Polizei, in denen er immer herumchauffiert wurde, am 27. März 2002 aus seinem Leben fuhren, war er Mister Anton.
Warum tut er sich das an?
Das Pseudonym ist nun der Titel seiner 720 Seiten dicken Autobiografie. Warum erinnert er sich dieser Jahre, in denen seine erste Frau an Krebs starb, seine zweite und dritte Ehe zerbrachen, sein norwegischer Herausgeber erschossen und sein italienischer Übersetzer erstochen wurde? Jahre, in denen hunderte Menschen bei Demonstrationen gegen seinen Roman ums Leben kamen und seine Bücher von Bradford bis Islamabad verbrannt wurden. Jahre, in denen er selbst Dinge tat, für die er sich immer noch schämt, und in denen er miterleben musste, dass von ihm verehrte Schriftsteller wie John Berger ihn dafür angriffen, dass er den Roman nicht zurückzog. Warum setzte er sich all dem noch mal aus? «Lange wollte ich darüber nicht schreiben. Als ich dann aber begann, wollte ich allen anderen gegenüber so verständnisvoll wie möglich und mir gegenüber so hart wie möglich sein. Ich wollte nichts beschönigen.»
So viel zur Absicht. Man kann aber nicht behaupten, dass er seiner zweiten Frau, der Schriftstellerin Marianne Wiggins, viel Verständnis entgegenbringt. Sie dürfte sich kaum über Passagen freuen, in denen er sie als wahnhaft beschreibt. Wenn man den Memoiren glaubt, war sie Rushdie während seiner härtesten Zeit keine Hilfe. In einem Interview beschrieb sie ihn mal als selbstgefällig. Die beiden liessen sich 1993 scheiden. Es fällt schwer, diese Absätze in Joseph Anton nicht als späte Rache zu lesen. Hat er ihr das Manuskript vorher gezeigt? «Nein, sie kann sich ein Exemplar kaufen.»
Seine dritte und vierte Frau – Elizabeth West und Padma Lakshmi – sowie seinen Sohn Zafar, dessen Mutter Clarissa während der Jahre der Fatwa an Krebs starb, zog er hingegen während des Schreibens zu Rate. «Elizabeth hat das Manuskript als eine der ersten gelesen, und nachdem sie einige Passagen korrigiert hatte, gab sie ihren Segen.» Eine köstliche Szene in einem New Yorker Hotelzimmer dürfte ihr ganz besonders gefallen haben. Dort traf sie auf Rushdies spätere vierte Frau Lakshmi und machte das indische Supermodel in einer extrem obszönen Sprache zur Schnecke, die ihr Mann ihr gar nicht zugetraut hätte.
Zombie des Zahnarztes
Hart mit sich selbst geht Rushdie ins Gericht dafür, dass er für kurze Zeit zum «Zombie eines Zahnarztes» wurde, wie er es nennt. An Heiligabend 1990 unterschrieb er auf Anraten von sechs muslimischen Geistlichen, mit denen er sich auf der Polizeistation Paddington Green traf, eine Erklärung. Darin stand, dass er nicht beabsichtigt habe, den Islam zu beleidigen und er sich der Religion wieder zuwenden wolle. Das Treffen vermittelte der Zahnarzt Hesham el-Essawy. Kurz nach dem Treffen veröffentlichte Rushdie in der «Times» zudem einen Artikel mit dem Titel «Warum ich Muslim bin»: «Ich bin sicher kein guter Muslim, aber ich bin jetzt in der Lage zu sagen, dass ich einer bin. Es erfüllt mich mit Freude, dass ich jetzt Teil der Gemeinschaft bin, deren Werte meinem Herzen stets am nächsten waren.»
Ihm sei danach körperlich schlecht geworden, erinnert er sich heute. «Ich kam mir vor, als hätte ich den Verstand verloren. Wenn ich mir meine Tagebuchaufzeichnungen aus jener Zeit anschaue, sehe ich, dass es die düsterste Zeit meines Lebens war. Ich wurde zum Zombie des Zahnarztes – als habe er mich mit einem Schmerzmittel wie Novocain einer Gehirnwäsche unterzogen. Alle, die mich liebten, sagten mir, ich sei wahnsinnig geworden.» Seine Schwester rief ihn an und fragte, ob er nun völlig den Verstand verloren habe. «Das Problem war: Ich hatte allein gehandelt, ohne meine Freunde und Familie um Rat zu fragen.» Später widerrief er seine vermeintliche Kehrtwende wieder.
Satanische Verse
Zu Beginn von Joseph Anton erinnert sich Rushdie, was er an dem Tag sagte, an dem er den humorlosen Valentinsgruss Chomeneis erhielt: «Ich wünschte, ich hätte ein kritischeres Buch geschrieben», sagte er dem amerikanischen Sender CBS und fügte hinzu, er habe nicht den Eindruck, Die satanischen Verse seien besonders kritisch gegenüber dem Islam. Vielmehr müsste eine Religion, deren Führer sich in dieser Weise gebärdeten, wohl ein bisschen Kritik vertragen. «Ich mache mich nicht über Mohammed lustig», sagt Rushdie heute. «Ich behandele ihn wie jemanden, der sich ziemlich gut benommen hat. Als er triumphierend nach Mekka zurückkehrte, hat er nicht so viele Menschen getötet.»
Am Ende der Autobiografie schreibt Rushdie, dass er sich nicht sicher sei, ob die Schlacht um Die satanischen Verse mit einem Sieg oder einer Niederlage geendet habe. Woher diese Zweifel? «Nun ja, das Buch wird noch gedruckt, der Autor wurde nicht zum Schweigen gebracht – in dem Sinne war es ein Sieg. Aber Angst und Bedrohung haben seitdem zugenommen.»
Mohammed-Film
Da untertreibt er wohl ein bisschen. Wenige Tage vor unserer Begegnung wurde der US-Botschafter in Libyen ermordet. Muslime greifen am Tag unseres Treffens, einem Freitag, US-Botschaften in Nordafrika und anderswo an, um gegen einen Film zu protestieren, der den Islam verunglimpft. «Der Mohammed-Film ist eindeutig bösartig und ein Stück Dreck», sagt Rushdie. «Eine zivilisierte Antwort wäre nur gewesen, zu sagen:Nicht zivilisiert ist es, Amerika für alles verantwortlich zu machen, was innerhalb seiner Grenzen passiert. Selbst wenn es zutreffen würde, ist es falsch, mit Gewalt zu reagieren, weil man sauer ist. Die muslimische Welt muss dieses Denken überwinden.»
Aufstieg des Salafismus
Dass es dazu kommen wird, bezweifelt er aber. Die Kehrseite des Arabischen Frühlings sei der Aufstieg des Salafismus. «In den Ländern, in denen es Revolutionen gegeben hat, befindet sich diese extreme Form des Islam im Aufwind.» Noch schlimmer sei jedoch, dass die westlichen Linken heute immer Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der größten Islamisten nähmen. Wenn er seinem Agenten einen Roman vorlegen würde, der noch islamkritischer wäre als Die satanischen Verse, würde er dann einen Verleger finden? «Wohl kaum. Immer wieder heißt es:Das stimmt nicht. Wenn man sich feige verhält, geht es nicht um Respekt. Dann hat man einfach Angst.»
Die vergangenen zehn Jahre hat Rushdie in New York gelebt. Er findet es spannend, wie eingewanderte Schriftsteller gerade die US-Literatur wiederbeleben – genauso wie er und andere es vor einigen Jahrzehnten in Grossbritannien taten. «Die amerikanische Literatur ist immer eine der Immigration gewesen.» Heute verliehen Schriftsteller wie der in China geborene Yiyun Li und der aus der Dominikanischen Republik stammende Junot Díaz der US-Literatur einzigartigen Reichtum, sagt Rushdie.
Film- statt Buchprojekt
Arbeitet er selbst schon wieder an etwas? Er zeigt auf seine dicke Autobiografie: «Ich habe gerade über sechshundert Seiten geschrieben. Gestatten Sie mir eine Pause.» Lieber möchte er über die Verfilmung seines Buches «Mitternachtskinder» sprechen, die kommenden Monat das Londoner Filmfestival eröffnet. Er hat das Drehbuch verfasst, war Produzent und hat die Erzählstimme eingesprochen. Bislang hat die Kritik auf den Film aber nur sehr verhalten reagiert. «Bei der Premiere in Toronto hat er Standing Ovations erhalten», kontert er.
Das letzte Mal, dass ich Rushdie interviewte, war 2008 in Miami. Es war das Ende einer Buchpromotion-Reise. Draussen auf dem Parkplatz standen damals – wie eigentlich überall, wo er hinkam – mehrere Polizeiwagen. Als er heute hinaus in die Londoner Abendsonne tritt, um sich ein Taxi für den Weg zu seiner Buchpremiere zu angeln, ist kein einziger Polizist zu sehen. So ist es in Grossbritannien seit zehn Jahren, seit seine Mitgliedschaft im Level One Club aufgekündigt wurde. Vorher hatte dieser Club drei Mitglieder, die rund um die Uhr unter Polizeischutz standen: die Queen, den britischen Premier und einen gewissen Mr. Anton. «2002 sank ich dann auf Level drei oder vier. Ab da ist man sich selbst überlassen.» Heute ist er ein freier Mann. Und er hat vor, es zu bleiben.
© Guardian News & Media Ltd. 2012, Übersetzung der gekürzten Fassung: Zilla Hofman / Holger Hutt