Historischer Sieg weckt bei Engländern Frühlingsgefühle

England hat Weltmeister Deutschland in Berlin bezwungen. Gewinnt England jetzt sogar die Euro 2016? Auf der Insel hat der Sieg über Deutschland zumindest Hoffnungen geweckt. Trainer Roy Hodgson bleibt aber vorsichtig.

Eric Dier wird von seinen Teamkollegen gefeiert.

(Bild: Keystone / Annegert Hilse)

England hat Weltmeister Deutschland in Berlin bezwungen. Gewinnt England jetzt sogar die Euro 2016? Auf der Insel hat der Sieg über Deutschland zumindest Hoffnungen geweckt. Trainer Roy Hodgson bleibt aber vorsichtig.

Der grösste Gewinner des Abends bekam in Berlin spät nach Schlusspfiff noch eine zweite Bühne, weigerte sich aber störrisch, den vorgesehenen Text aufzusagen. Drei, vier Mal mussten die englischen Reporter Roy Hodgson auf der Tartanbahn im inneren des Olympiastadions die gewünschte Antwort soufflieren, bis der Nationaltrainer schliesslich klein beigab. «Man hofft ja immer, dass das Beste noch vor einem liegt», wandte er ein. «Aber meinetwegen: Ja. Das war heute der beste Abend – in meiner bisherigen Amtszeit.»

Hodgson konnte seit seiner Übernahme der englischen Auswahl vor vier Jahren wenige wirklich bedeutsame Resultate verzeichnen, seine Reputation auf der Insel war bis zu jenem Samstagabend die eines hochanständigen Grandseigneurs, der die zahlreichen strukturellen Probleme des Fussball-Königreichs nur mal mehr, mal weniger geschickt zu verwalten wusste.

Gegen Joachim Löws Weltmeister hatte Hodgson seine junge Elf allerdings zu einem derart beeindruckenden 3:2-Sieg gecoacht, dass der seriöse «Daily Telegraph» den 68-Jährigen urplötzlich «auf der Überholspur» wähnte, und auch andere Gazetten feierten ihn als Mann, der dem jungen, unbekümmerten England mit mutigem Angriffs-Pressing eine bessere Zukunft bescheren könne. 

Hodgson wollte jedoch das Tempo lieber drosseln. «Ich hatte schon länger das Gefühl, dass wir mit dieser Gruppe von Spielern am Anfang von etwas Neuem stehen», sagte er. «Aber wir dürfen nicht all die Kritik vergessen, die wir in der Vergangenheit bezogen haben, und uns jetzt nicht in den Himmel heben lassen. Diese Mannschaft befindet sich noch im Umbau.»

Hodgsons Versuch der Euphoriebegrenzung fand ein Echo in den Worten der Akteure. «Es ist ein grosser Abend für unser Land», sagte Harry Kane, der Torschütze des 1:2 aus Sicht der Gäste, schob aber sogleich die Einschränkung nach, dass dies ja «nur ein Freundschaftsspiel» gewesen sei. Selbst in der Berichterstattung des Boulevards wurden die Bemühungen deutlich, die eigene Freude über den als historisch eingeschätzten Triumph in der deutschen Hauptstadt gleich wieder einzufangen. «Niemand sollte sagen, dass wir jetzt die Euro in Frankreich gewinnen, aber wir haben wieder Hoffnung», schrieb Ex-Nationalstürmer Alan Shearer in der «Sun».



Harry Kane zirkelt den Ball gekonnt an Manuel Neuer vorbei

Harry Kane zirkelt den Ball gekonnt an Manuel Neuer vorbei (Bild: Keystone / Sören Stache)

Ein paar Schmetterlinge im Bauch sind also schon erlaubt, nach den schmerzlichen Enttäuschungen der vergangenen Jahrzehnte will man sich aber noch nicht zu früh in diese Mannschaft verlieben. Eine überzogene Erwartungshaltung würde der taktisch und technisch erstaunlich ausgereiften Jugendtruppe ohnehin nur schaden, sie soll sich ihre Unbekümmertheit und «Furchtlosigkeit» (Hodgson) ausdrücklich bewahren. «In der Vergangenheit wirkten die Nationalspieler oft verängstigt und hatten schwer an ihren Trikots zu tragen, doch dieser Trip ins Ausland hatte etwas von einer aufregenden Schulreise mit einem beliebten Lehrer», notierte die «Times».

Fussballpädagoge Hodgson hat es verstanden, mit neuen Spielern wie dem in Berlin alles überragenden Mittelfeld-Dynamo Dele Alli, 19, der erst im September sein Profidebüt bei Tottenham Hotspur gegeben hat oder dem bei Sporting in Lissabon fussballerisch sozialisierten «Sechser» Eric Dier (ebenfalls von den Spurs) die Atmosphäre im Team zu verändern. Sie können aufgrund ihrer Unerfahrenheit mit Nachsicht beim Publikum rechnen, während bewährten Kräften bei Fehlern reflexartig mangelnder Patriotismus vorgeworfen wird.



Nach dem Siegestreffer über Deutschland kennt der Torjubel von Eric Dier keine Grenzen.

Nach dem Siegestreffer über Deutschland kennt der Torjubel von Eric Dier keine Grenzen. (Bild: Keystone / Annegert Hilse)

Zudem profitiert der England-Chef stark von Mauricio Pochettinos grandioser Arbeit beim Tabellenzweiten Tottenham, der gegen die unorganisierte DFB-Elf vier Spieler stellte. Der Argentinier, «Englands Schatten-Nationaltrainer» (Daily Telegraph) wirkt mit seinem laufintensiven, aggressiv gegen den Ball gerichteten Spiel  – Thomas Tuchel lobte es neulich als «deutsch»  – stilbildend für die traditionell eher von Einzelspielern dominierte Liga und weist den Kickern Ihrer Majestät darüber hinaus einen Weg aus ihrem Erzdilemma. Britische Wucht muss nicht länger mehr im Widerspruch zu der auf dem Kontinent bevorzugten Kontrolle stehen, wenn das ganze Team systematisch das Spielgerät jagt und clever den Aufbau des Gegners kaputt machen kann. 

Am Dienstagabend soll der kameradschaftliche Spielspass mit leicht veränderter Formation gegen die Niederlande weitergehen, das Wembley-Stadion wird sich dabei bei aller Vorsicht vor den Gefühlen so begeisterungsfähig wie lange nicht mehr zeigen. Hodgson sollte  den Abend geniessen, denn danach stehen ungeachtet des Ergebnisses anstrengende Monate an: Er muss Englands zartes Frühjahrserwachen vor der bedrückenden Debatte um die Rückkehr von Kapitän Wayne Rooney in den Kader beschützen.

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