England ist an der EM in Frankreich noch nicht richtig in Fahrt gekommen. Der verpasste Gruppensieg und die ständigen Wechsel innerhalb des Teams brachten Trainer Roy Hodgson in die mediale Kritik.
Die «Auberge du Jeu de Paume» in Chantilly, einem Städtchen 50 Kilometer nördlich von Paris, liegt herrlich gelegen. Unmittelbar neben dem malerischen Park des Schloss Chantilly, inmitten von Wäldern und Wiesen, logiert die englische Delegation während der EM in Frankreich. In der Ruhe soll die Kraft liegen, welche die «Three Lions» nach 50 Jahren des Wartens zum ersten Titelgewinn seit der WM 1966 im eigenen Land verhelfen soll.
Ruhig und harmonisch geht es im Lager der Engländer nicht zu und her. Im Blätterwald der englischen Medien rauscht es. Die mässigen Resultate der Vorrunde und der verpasste Gruppensieg riefen die Kritiker auf den Plan. In der Kritik stehen aber weder die Stürmer, die beim 0:0 gegen die Slowakei ihre Kaltblütigkeit vermissen liessen, noch Captain Wayne Rooney, der seine neue Position im offensiven Mittelfeld noch nicht restlos gefunden hat, sondern Trainer Roy Hodgson.
Dem 68-jährigen Gentleman wird vorgeworfen, planlos und chaotisch zu agieren. England hatte die Qualifikation in der Gruppe E (mit der Schweiz) dominiert und mit zehn Siegen eine perfekte Kampagne gespielt. Bereits Anfang September und dem 6:0 in San Marino hatten die «Three Lions» ihre Teilnahme für Frankreich gesichert – als erstes Team nach Gastgeber Frankreich. 40 Wochen und zehn Spiele habe Hodgson Zeit gehabt, um seine Stammformation zu finden, lautet der Tenor – gefunden hat er sie noch immer nicht. Rooney, der als einziger Feldspieler vor gut neun Monaten in Serravalle in der Startaufstellung gestanden hatte, spielte beim EM-Auftakt gegen Russland (1:1) erstmals im Mittelfeld, im Hinblick auf das letzte Gruppenspiel gegen die Slowakei nahm Hodgson gleich sechs Wechsel in der Startaufstellung vor.
Hodgsons Unentschlossenheit verwundert, hatten sich seine Teams in der 40-jährigen Trainer-Karriere doch immer durch eine nahezu perfekte Organisation und ein klares Spielsystem ausgezeichnet. Bereits die Erfolge mit der Schweizer Nationalmannschaft Mitte der Neunzigerjahre hatte Hodgson mit zwei klassischen Viererketten errungen. Ein Mittel, das er auch später mit Fulham (Einzug in den Europa-League-Final 2010) oder zu Beginn seiner Amtszeit bei den «Three Lions» beim Viertelfinal-Einzug an der EM 2012 in Polen und der Ukraine erfolgreich anwendete.
Folgt der sportliche «Brexit»?
Im Gegensatz zum Turnier vor vier Jahren oder der WM 2014 würde man Hodgson, dessen Vertrag bei der FA ausläuft, diesmal ein frühzeitiges Scheitern nicht verzeihen. Zu talentiert und spielstark präsentierte sich die Mannschaft, die in diesem Jahr unter anderen auch Weltmeister Deutschland geschlagen hat. «Als aufregendste Auswahl seit 1966», hatte Geoff Hurst, der Schütze des berühmten Wembley-Tores, vor dem Turnier in Frankreich geschwärmt.
Ähnliche Töne gab in den letzten Tagen auch Wayne Rooney von sich, der am Montag gegen Island sein 115. Länderspiel bestreiten und damit mit David Beckham gleichziehen wird. «Wir haben fünf oder sechs Spieler, die ein Spiel entscheiden können, das war nicht immer so.» Die Differenz zu den Spitzenteams sei kleiner geworden. Vor Spanien oder Deutschland hätten sie sich vor vier Jahren noch gefürchtet, nun habe er das Gefühl, dass England gleich gut sei wie diese Teams, so der 30-Jährige. «Wir sind nicht hier, um die Viertelfinals zu erreichen, sondern um das Turnier zu gewinnen. Das ist das Ziel.»
Mit dem Szenario, dass drei Tage nach dem politischen «Brexit» bereits am Montag in den Achtelfinals gegen Island der sportliche folgen könnte, beschäftigt sich im Lager der «Three Lions» aber niemand. Island, «ein Land mit mehr Vulkanen als Fussball-Profis» (Times), sei eine Nation mit 330’000 Einwohnern, England eine mit 55 Millionen, so die weitläufige Meinung. Robbie Savage, der ehemalige walisische Internationale, schrieb in seiner Kolumne beim «Mirror»: «Wenn Island England schlägt, wird Roy Hodgsons ‚Brexit‘ schneller Tatsache werden als derjenige von Premierminister David Cameron.»