«Ich war müde und wollte nicht mehr mitmachen»

Im Dokumentarfilm «Master of the Universe» gibt der Ex-Banker Rainer Voss Einblick in die Machtzentrale des Geldes. Im Interview mit der TagesWoche spricht er über die 1:12-Initiative sowie über Moral und Kriminalität in der Finanzindustrie. Der Film «Masters of the Universe» ist aktuell noch bis am 5. August in der ARD-Mediathek frei verfügbar. Rainer Voss […]

Im Dokumentarfilm «Master of the Universe» gibt der Ex-Banker Rainer Voss Einblick in die Machtzentrale des Geldes. Im Interview mit der TagesWoche spricht er über die 1:12-Initiative sowie über Moral und Kriminalität in der Finanzindustrie.

Der Film «Masters of the Universe» ist aktuell noch bis am 5. August in der ARD-Mediathek frei verfügbar.

Rainer Voss hat als Investmentbanker Milliarden um den Erdball geschoben und Unternehmen an die Börse gebracht. Er wirkte in den Hinterzimmern der Finanzindustrie, bis er ausstieg. Heute berät er Firmen, hält Vorträge. Seine Mission: Menschen zum Nachdenken über den Sinn von Geld anzuregen. Der deutsche Filmemacher Marc Bauder folgt ihm im aufrüttelnden Film «Master of the Universe» in die Gebäude- und Gedankenwelt des Frankfurter Finanzzentrums. Wir trafen den Ex-Banker im Zug durch die Schweiz zum Gespräch über Kapital, Moral, Wirtschaft und Gesellschaft.

Herr Voss, sind Sie ein anarchistischer …

Überhaupt nicht …

… Bankier?

Nein.

… ich spiele auf Fernando Pessoa an.

Ja. Ich habe das Buch zu Hause.

Pessoa sagt in seinem Buch «Der anarchistische Bankier», man könne mit Bankiers sehr gut über Kunst reden, mit Künstlern aber viel besser über Geld.

Das würde ich aus vollem Herzen zurückweisen: Nicht jeder, der einen Zahnfrankenschein in der Tasche hat, kann über Geld reden. Andererseits sagt ein Ungare namens Erwin Chargaff, der sich mit Wissenschaftskritik beschäftigte: «Vor Leukozyten hat der Laie mehr Respekt als vor Kafka.»

Niemand würde auf die Idee kommen, mit seinem Arzt über das Blutbild zu diskutieren, aber wer lesen kann, traut sich rasch zu, mit einem Literaturkritiker über Kafka zu streiten. Ähnlich verhält es sich bei Gesprächen über Geld. Bei Gesprächen über Geld fehlt oft die Demut. Vor allem bei den Politikern. In Deutschland verstehen 90 Prozent der Menschen nicht einmal den Unterschied zwischen Zentralbankgeld und Bankengeld. Das sind aber die Leute, die …. nein. Schreiben Sie dass nicht auf. Sonst kriege ich Ärger.

Sie erwähnen im Film «Master of the Universe», dass sich eine Aktie in den 1940ern durchschnittlich vier Jahre im Besitz eines Aktionärs befandt. Heutzutage hingegen wechsle eine Aktie nach durchschnittlich 22 Sekunden den Besitzer.

Die Zahl stammt aus einem Buch von Frank Schirrmacher, dem Herausgeber der FAZ. Er zitiert einen englischen Professor. Es ist also eine Schätzung. Doch selbst wenn sich dieser Professor um 7000 Prozent verschätzt haben sollte, würde das heissen, dass eine Aktie nach drei Tagen die Besitzerhand wechselt: Was ändert das an der Aussage? Eine Aktie ist ja eine Unternehmensbeteiligung …

gewesen …

ja, der Sinn, einer Unternehmensbeteiligung von 22 Sekunden erhellt sich mir nicht, ist aber normal! Was sagt das über die Märkte aus! Herr Franconi, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Börse, erklärt, dass Hochfrequenzhandel eine tolle Sache sei. Sie können einen Kurs in Bruchteilen von Millisekunden erkennen und Papiere kaufen oder abstossen. Nur verschweigt er dabei, dass dieser Hochfrequenzhandel keinen gesellschaftlichen Nutzen hat. Absolut keinen. Er löst keine wirtschaftlichen Impulse in der Realwirtschaft aus.

Als ich zu arbeiten anfing, haben wir pro Woche 15 bis 20 Unternehmen an die Börse gebracht. In Deutschland sind in diesem ganzen Jahr vier Unternehmen an die Börse gegangen. Die Börse übt heute ihre Funktion, Kapital für die Wirtschaft zu beschaffen, gar nicht mehr aus. Wenn eine Institution ihre Aufgabe nicht mehr erfüllt, darf man sich fragen, welche Aufgabe sie dann hat.

Wie viel weiss der durchschnittliche Mitarbeiter einer Bank über die unmoralischen Geschäfte, die gemacht werden?

Nichts. Nichts. Nichts. Das ist ja auch ein Teil des Problems. Es findet in den Banken eine Kompartimentierung statt. Da wissen Sie nicht, was links und rechts von Ihnen geschieht. In der Mitte sind Sie, machen effizient Ihren Job. Sie traden zum Beispiel Aktien-ETF mit dem Anfangsbuchstaben H bis O. Sie sitzen in Ihrer Blackbox und machen Ihren optimierten Job. Bald verspüren Sie keine Verantwortung mehr für das, was Sie da tun. Sie geben ja nur weiter, was bei Ihnen ankommt. Das machen Sie völlig korrekt. Aber, Sie wissen nicht, ob der Typ rechts von Ihnen nicht Mist baut. Sie wissen gar nicht mehr, was da im Grossen moralisch abgeht. Es sind nur wenige, die in der Lage sind zu verstehen, was in der Produktionskette abgeht.

Ab welcher Ranghöhe der Produktionskette hat man noch den Überblick?

Ganz wenige Leute. Ich meine sogar eher: keiner! Ich würde sogar behaupten, dass keiner weiss, wie das Ganze funktioniert.

Wie soll dann der kleine Bankangestellte einreihen?

Ich lasse am liebsten meinen Film dazu antworten: Der Film ist ja ohnehin ein Appell an die Verantwortung des Einzelnen, selbst wenn er selber nicht mehr ermessen kann, ob er moralisch richtig handelt: Wenn Sie vier Zahnräder an Ihrem Arbeitsplatz betreuen, dann wissen Sie, was Sie tun. Aber wenn Sie 75 000 Zahnräder überwachen, fehlt bald der Überblick.

Man spricht zum Beispiel von der Erhöhung der Eigenkapitalquote: Dadurch werden die Kapitalkosten für die Banker grösser. Das ist die Logik der Politiker. Was ist aber die Logik der Banker? Sie haben teureres Kapital, gehen also höhere Risiken ein, um wieder gleichen Gewinn zu erzielen. Politiker führten eine Regelung in bester Absicht ein, um das Risiko aus dem System zu nehmen!

Oder die Staatsschulden: Im Markt dienen Staatschulden vor allem dazu, als Pfand das Interbankengeschäft am Leben zu halten. Das ist wie ein gigantisches Pfandhaus. Die Staatsschulden halten die Banken liquide. Sie hätten eigentlich den Sinn, Bankengeld zu schöpfen, das real in der Wirtschaft auch ankommt.

Warum läuft so vieles schief?

Letztlich, weil der Diskurs fehlt: Ich beneide Sie zum Beispiel um diese 1:12-Initiative. Es geht dabei gar nicht darum, wie die ausgeht. Aber, dass dieser Diskurs geführt wird, finde ich grossartig.

Was wäre passiert, wenn diese eingeführt worden wäre?

Dann wären sehr rasch Wege gefunden worden, 1:12 zu umgehen. Vielleicht hätte man die Spitzenlöhne gekürzt und stattdessen horrende Pensionen ausgesetzt. Die Finanzindustrie findet rasch neue Wege, um leistungsfrei Einkommen zu erzielen.

Von Boni zu Bussen: Die UBS bezahlt in diesem Jahr Bussen in Milliarden-Höhe.

Erst mal will ich da trennen, was ist illegal, was ist legal? Kriminalität ist der Preis, den die Gesellschaft für die Freiheit zahlt. Deshalb hat sich die Gesellschaft ein System geschaffen mit Legislative, Judikative und Exekutive, um die Balance zu halten. Doch wir haben uns von diesem Idealfall entfernt: Wir sind gesamthaft in Richtung der Illegalität unterwegs. Wir sind von der «Gesellschaft des Rechttuns» unterwegs zu einer «Gesellschaft des Rechthabens». Die moralischen Fragestellungen rücken immer mehr in den Hintergrund.

Der amerikanische Bankenkonzern J.P. Morgan hat kürzlich eine Busse von 13 Milliarden Dollar aufgebrummt erhalten. Spiegelt das das nicht ein enormes Mass an krimineller Energie, mit der dieser Konzern vorgeht?

Ich will nicht sagen, dass die Banker die Bösen sind. Ich will überhaupt weg von dieser Kategorisierung von Gut und Böse! Ich mag dieses «Böser Banker»-Klischee nicht. Es gab einen Frankfurter Kabarettisten, Matthias Beltz, der sagte: «Wenn du morgen aufstehst und weisst, wer der Böse ist, strukturiert das den Tag!»

Solche Summen zeigen, dass Einzelne innerhalb dieser immensen Produktionsketten sehr lange unbemerkt handeln können, ehe der illegale Charakter ihres Handelns deutlich wird. Wir sind längst alle Teil dieses Systems, das nur Gewinnzahlen fordert. Ich habe einen Film über die Finanzwirtschaft gemacht. Aber ich bin sicher, wenn ein Müllmann sich so äussern könnte, er könnte ähnliche Schlüsse ziehen: Es hat sich was verändert.  Die Zahlungen von solchen Summen sind dann ja auch eigentlich keine Bussen. Ich sehe das eher wie einen Ablasshandel der Kirche.

Sündigen tun alle, aber wer im Himmel weiter wirtschaften will, muss zahlen? Rechnen wir mal eine 1,8-Milliarden-Busse der UBS auf 18 000 Mitarbeiter in der Deutschschweiz um, bezahlt die Bank pro Mitarbeiter 100 000 Franken Busse. Muss ich da als Mitarbeiter nicht misstrauisch werden? Kann ich behaupten, ich habe nichts davon gewusst?

So habe ich das noch nie gerechnet, verblüffend. Also, meine Theorie ist die: Im Moment haben wir es mit zwei gesellschaftlichen Gruppen zu tun, die sich sprachlos gegenüberstehen: Da ist einerseits das Volk und auf der anderen Seite die Gesamtwirtschaft – wesentlich mehr also, als nur die Banken. Die reden nicht miteinander. Aber die Sprachlosigkeit der beiden Gruppen ist einer Logik geschuldet: Setzen Sie Ptolemäus und Kopernikus an einen Tisch, und sagen denen, sie sollen das mit der Sonne mal auskaspern. Das funktioniert so nicht.

Sie waren lange Jahre in bedeutender Position in der Finanzindustrie. Als Wissender …

Ich würde mich eher als Ahnender bezeichnen ..

Dann haben Sie vielleicht eine Ahnung, wie sich diese tektonische Verschiebung in der Wirtschaft aufhalten liesse.

David Tuckett hat ein Buch geschrieben, «Minding the Markets», worin er den Markt mit psychologischen Gesetzen vergleicht. Letztlich führt er uns damit auf die Verantwortung des Individuums zurück. Da können wir beginnen. Warum gibt es zum Beispiel keinen hippokratischen Eid für Banker? Der funktioniert ja in der Medizin ganz gut! Warum gibt es für Banken keine Ethik-Kommission? Kirchen, Gewerkschaften, Bürgervertreter, die Wirtschaft  sollten über die Vorgaben ins Gespräch kommen, die die Wirtschaftspolitik gibt. Es findet eine Verformung der Menschen statt, die uns alle treffen kann.

Kennen Sie den Fall von Frank Quattrone?

Ja, kenne ich.

Er hat für die CS Unternehmen an die New Yorker Börse gebracht. Er schuf sich bei der Vergabe der Aktienpakete einen Freundeskreis, den er mit Kaufanrechten versorgte – sehr gewinnbringend, aber illegal. Er wurde vom Gericht als Einzelner  verurteilt, von der CS entlassen. Aber er erhielt von der CS eine Abgangsentschädigung von 150 Millionen Dollar. Als Schweigegeld?

Ich will Ihnen eine Situation schildern. Stellen Sie sich vor, zu Ihnen kommt ein Kind und sagt: «Du, Papa, wenn ich Mist baue, kriege ich Fernsehverbot, nicht wahr?»«Ja.»«Aber mein Freund Lars gesagt, sein Papa hat auf der Arbeit Mist gebaut, der hat jetzt keine Arbeit mehr.»«Aha.» «Da hat der Timo erzählt, sein Papa hat auf der Arbeit Mist gebaut. Der hat dafür aber 10 Millionen gekriegt!»«Ach.» «Kannst du mir das mal erklären?»

Ja? 

Diese Abgangszahlung ist natürlich ein Skandal. Der eigentliche Skandal ist aber, dass immer mehr Leute das mitkriegen und für selbstverständlich ansehen, als sei das der Standard! Die Kinder aber nehmen noch ganz frisch an, was da abgeht. Wenn wir noch zwei Generationen so weitermachen, dann wissen unsere Kinder nicht mehr, was oben und was unten ist. Moral vererbt sich auf diesem Weg. Kinder schauen zu, was ihre Eltern machen. Sie denken, was Eltern machen, ist richtig. Dabei verlieren wir unseren Kompass.

Bei den hohen Löhnen wird oft argumentiert, dass ein hoch bezahlter CEO eben auch sein Netzwerk mitbringe, seine Kontakte. Banker fürchten, dass Kunden mit dem Kundenbetreuer abwandern …

Das mag in Einzelfällen passiert sein. Investmentbanker sind ja ein geschwätziges Völkchen, wie ein Kegelclub. Der Informationsfluss ist sehr transparent. Die Bezahlung von Abgangsentschädigungen spiegelt ein anderes Dilemma wieder. Geld ist eigentlich ein Gradmesser für Liebe. Von Liebe können Menschen nie genug haben. Das klingt erst mal etwas verschroben. Banker holen sich ihre Befriedigung über Geld. Aber wenn ich das ändern will, muss ich erkennen, was ich ändern will: Wer Geld reguliert, schafft nur noch mehr Anreize, die durch Geld ersetzbar sind.

Niemand will in einem Spital arbeiten, das bekannt dafür ist, für illegale Eingriffe jährlich Bussen in Milliardenhöhe zu bezahlen. Warum ist das bei Banken anders?

Darf ich mit einer Gegenfrage antworten? Wir haben in Deutschland einen Fussballclub, dessen Präsident der Steuerhinterziehung überführt ist und dessen Vizepräsident am Zoll vergessen hat, dass er zwei Uhren für über 150 000 Euro im Gepäck hat. Wir haben an der Spitze des Bundesverbandes der deutschen Privatbanken einen Mann, der eine Anklage wegen Vorteilsannahme und Bestechung am Hals hat. Alle dürfen weiter arbeiten. Ist das moralisch in Ordnung? Wie wollen Sie das einem zwölfjährigen Jungen erklären?

In der Schweiz fand kürzlich der «Zukunftstag» statt. An diesem Tag besuchen Kinder Erwachsene bei der Arbeit, um zu sehen, was Mama oder Papa tagsüber machen. Wie kann Ihrer Meinung nach CS-Chef Brady W. Dougan seinem Sohn erklären, warum er jetzt in einer Stunde 40 000 Franken verdient, für die die Sekretärin nur 85.20 erhielt ….

Ich habe das mal versucht, als meine Kinder noch klein waren. Musste mir dann allerdings sagen, ich warte lieber noch zehn Jahre …

In der Zwischenzeit sind zehn Jahre vergangen .. .

Ein grosses Problem ist das Nichtwissen. Wenn ich vor fünf Jahren 10 000 Franken angelegt habe, zu 5 Prozent, dann denken die meisten, von den 500 Franken Zins pro Jahr gehe ich essen, und nach fünf Jahren kriege ich die vollen 10 000 wieder. 98 Prozent der Bürger werden sagen: Ich habe ja 5 Prozent Rendite gehabt. Das ist aber Blödsinn. Weil der Zinseszins verlorenging. Sie haben nicht mal 3 Prozent gehabt, wobei die Geldentwertung nicht berücksichtigt ist! So funktioniert der Markt: Er provoziert aufgrund von irrationalem Verhalten rationale Ergebnisse. Die wenigsten Menschen wollen wissen, dass eine Renditerechnung anders funktioniert.

Die Gegenwart kennt aber noch ein anderes Problem: Die Notenbanken schütten Geld über die Wirtschaft, das in der Wirtschaft nicht ankommt. Es bleibt im Finanzsektor hängen. Es wird nicht in die Wirtschaft gepumpt. Deutschland zum Beispiel konkurriert deshalb mit der Welt über Arbeitskosten. Das sollten aber Rumänen oder die Inder tun. Deutschland sollte über Hochtechnologie und Forschung konkurrieren. Stattdessen verbilligt es die Arbeitskosten immer mehr. Die Industrie floriert wegen billiger Arbeitskräfte, das Geld aber fliesst stattdessen an die Börse, um leistungsfrei Einkommen zu erzielen.

Die Schweizer Banken bezifferten gestern den Bereich von Unternehmenskrediten mit 17% des Gesamtanteils ihrer Umsätze.

Ich sage Ihnen mal eine andere Zahl. In Deutschland stehen einem Anleger diverse Instrumente zum Geldanlegen zur Verfügung: Aktien, ETF, Optionsscheine, Zertifikate etc. Davon sind 460 000 an der Börse. Nun vergleichen wir das mit REWE, in der Schweiz könnte das Migros sein. REWE hat 50 000 Waren im Angebot. Aldi und Lidl bieten etwa 12 000 Artikel an. Es ist eigentlich polemisch, solche Zahlen zu vergleichen. Aber Sie haben 920 000 Produkte, die Sie kaufen können, um leistungsfrei Einkommen zu erzielen, und 50 000 Produkte um dieses Einkommen auszugeben. Ich finde das krank.

Sie erzählen mir das, während wir im Zug durch die Schweiz fahren. Im Film denken Sie darüber in den Bürotürmen Frankfurts nach. Sie haben in leitender Position in der Finanzbranche aufgehört. Warum?

Sehen Sie, ich habe eine Bekannte, die ist ebenfalls aus der Branche ausgestiegen und macht heute Sterbebegleitungen. Die sagt mir, dass Menschen auf die Frage, was sie in einem neuen Leben anders machen würden, als Zweithäufigstes nennen: Weniger arbeiten. Arbeit ist eine Droge. Ich war müde. Ich wollte nicht mehr mitmachen.

Erschreckend erhellender Dokumentarfilm

Bei der «Semaine de la Critique» in Locarno wurde er preisgekrönt: Marc Bauder spielt mit seinem Film «Master of the Universe» auf Tom Wolfes «Master of the Universe» aus dem «Fegefeuer der Eitelkeiten» an. Die Bilder sind erschreckend kühl. Die Türme der Macht fast durchsichtig. Der Lift ins vierzigste Sockwerk ist aus Glas. Niemand scheint etwas zu verbergen zu haben. Besonders nachts wirken die Büros der Frankfurter Machtzentrale geradezu fahrlässig transparent. Trotzdem ist undurchschaubar, was hinter den Scheiben vorgeht. Nur selten will jemand erhellen, was sich hier abspielt, hinter dem Glas der Machtzentralen der Finanzindustrie.

Der deutsche Dokumentarfilmer Marc Bauder hat sich auf die Suche gemacht: Per Inserat in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» hat er einen Insider gesucht, der bereit war, aus der Zentrale der Macht zu berichten. Dann hat er Rainer Voss gefunden. In einem leer stehenden Büroturm trifft er sich mit dem ehemaligen Bankmanager. Hoch über den Köpfen der Menschen streift er den Glasfassaden der Bürotürme entlang. In den verödeten Bürosälen mit den endlosen Fensterfronten weitet sich sein Blick.

Verstellt wird er nur durch die Machttürme der Finanzkonzerne. Voss redet über Finanzströme wie süchtige Fischer über ihre Jagdgründe. Er macht klar, dass es längst nicht mehr die Entscheidungen an der Pyramidenspitze der Finanzkonzerne sind, die die Schäden verursachen. Es sind die Trader an der Basis, die, je nach Limit und je nach Fähigkeit, dieses Limit zu umgehen, die grössten Summen bewegen, um zu spekulieren. Wo bleibt der Sinn für eine Investition von 22 Sekunden? Voss verblüfft mit Offenheit. Und mit klaren Vergleichen. Selten hat man den Irrsinn der Börsenspekulationen besser zusammengefasst gesehen als in seinen Aussagen.

Bald wird klar, dass Voss nichts zu verbergen, nichts zu verstecken hat. Auch er möchte verstehen. «Ein Einzelner kann den Steuerbericht des Deutschen-Bank-Konzerns gar nicht mehr kapieren. Es können da nur noch ganze Kanzleien etwas dazu sagen, und die meist ohne die Garantie, dass sie sich nicht irren.» Voss erzählt mit ruhiger Stimme, fast heiter. Er weiss, was er sagen darf. Manchmal, wenn er zu weit geht, bricht er von selber ab: «Nein. Das sage ich nur off the record. Schalt mal die Kamera aus.»

Dann folgen ein paar schwarze Sekunden auf der Leinwand, die uns das sagen, was wir gewohnt sind:  Dass uns etwas vorenthalten wird. An der Börse kann man auf alles wetten, auch auf den Zusammenbruch. Voss ist kein Verzweifelter. Er hat in seinem Leben gut Kohle gemacht. Voss ist auch kein Verbitterter. Er hat aufgehört, bevor er seinen gesunden Menschenverstand verloren hat. Voss ist aber auch kein Gewinner. Er bleibt beredt, auch wenn er den bevorstehenden Zusammenbruch skizziert. Nach Griechenland, Portugal und Spanien könnte es Frankreich sein. Frankreich. Dann heisst es «Rien ne va plus !». «Kein Plan B?» «Nein. Diese Banken hier haben einen Plan B für den Fall, dass eine Atombombe einschlägt. Aber nicht für den Fall, dass diese Kreditkonstrukte einbrechen.» Aber das scheint Rainer Voss nicht von seinen klaren Gedankengängen abzuhalten. Wenn er zum Beispiel im Geschäftsbericht die Liste der Rückstellungen vorliest, die die UBS für zukünftige Bussen wegen illegalen Praktiken tätigt, bleibt er ganz sachlich: Da habe man wohl Leuten was angedreht, was nicht koscher sei, der Stadt Mailand zum Beispiel, oder den Libor manipuliert, den Referenzzinssatz, zusammen mit anderen Grossbanken hat man da ein wenig die Märkte hinters Licht geführt …

Nur einmal verstummt Rainer Voss. Als es um seine Familie geht. Da schüttelt er nur seinen Kopf. Da werden seine Sätze kürzer. Sein Atem flacher. Die Gedanken schweifen ab. Nein. Darüber reden will er nicht, sagt er, und sein Blick verliert sich in der Baustelle nebenan. Seit sechs Jahren baut die Europäische Zentralbank da ihren neuen Turm.

 

Der Film «Master Of The Universe» ist derzeit im Mittagskino im Basler Kult-Kino Atelier zu sehen. Am 3.12. ist offizielle Basler Premiere, der Regisseur Marc Bauder wird anwesend sein.

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