Nach der Vertreibung der Rebellen aus Aleppo werden die Karten nicht nur in Syrien, sondern im Nahen Osten neu gemischt. Die Gewinner stehen am Ende dieses Jahres aber schon fest: es sind Russland und der Iran. Eindeutiger machtpolitischer Verlierer ist Saudi-Arabien.
Nachdem Aleppo schon beinahe sicher in Rebellenhand schien, hat der bedrängte syrische Präsident Baschar al-Assad die einstige Wirtschaftsmetropole des Landes im Norden innerhalb weniger Wochen zurückerobert. Wie war das möglich?
«Der militärische Sieg in Aleppo wurde hauptsächlich von Milizen ermöglicht, die sich als Verbündete des Regimes in Damaskus sehen und deren Vormarsch durch die russische Luftwaffe gedeckt wurde», sagt Reinhard Schulze, Direktor des Instituts für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur sda.
Während die syrischen Streitkräfte selbst nur eine untergeordnete Rolle gespielt hätten, hätten sich neben Einheiten der libanesisch-schiitischen Hizbollah, iranischen Brigaden und afghanischen Kämpfern vor allem die so genannten nationalen Verteidigungskräfte profiliert. Diese knapp 100’000 Mann starke Truppe sei 2012 speziell zur Aufstandsbekämpfung aufgebaut worden.
Der Sieg dieser Allianz in Aleppo habe die Abhängigkeit des Assad-Regimes von ausländischen Partnern nur noch verstärkt. Russland, der Iran, die Hizbollah und vor allem auch die Kommandanten der nationalen Verteidigungskräfte werden dies propagandistisch ausnützen und dafür vom Regime einen Preis verlangen, glaubt Schulze.
USA ohne funktionierenden Masterplan
Nach der jahrelangen relativen Passivität der USA im Nachgang zu den militärischen Engagements in Afghanistan und im Irak ist Russland während des US-Präsidentschaftswahlkampfes entschlossen in die nahöstliche Machtlücke gesprungen und hat das Heft in die Hand genommen.
Es sei «offensichtlich, dass die USA keinen funktionierenden Masterplan in Bezug auf die Syrien- und Irakkrise mehr haben», sagt Schulze. Die auf die Terrormiliz Islamischer Staat konzentrierte Konfliktwahrnehmung habe verhindert, dass die USA noch produktiv in die Befriedung Syriens eingreifen können.
Es sei aber klar, so Schulze, dass der so genannte Islamische Staat nur dann wirksam und nachhaltig bekämpft werden könne, «wenn in einer innersyrischen Friedensordnung die sozialen und politischen Interessen der Oppositionsgruppen, Kommunen und Gemeinschaften – abgesehen von den ultraislamischen Kampfbünden – Berücksichtigung» fänden.
Machtpolitisches Tummelfeld
Im gegenwärtigen nahöstlichen Machtpoker mischt nicht nur Russland mit. Der Iran mit der Hizbollah als verlängertem schiitischen Arm und die – sunnitische – Türkei sehen ihre Stunde ebenfalls gekommen.
Russland habe in Syrien vielfältige Interessen. Zum einen bilde das Land einen grossen militärischen Stützpunkt zur Sicherung russischer Interessen im Nahen Osten. Machtpolitisch könne damit die Türkei umklammert werden zum Schutze der Südflanke der russischen Interessenzone, sagt Schulze.
Andererseits interessiere sich Moskau auch für eine Ausbeutung von Bodenschätzen wie Erdöl und Erdgas. Und ausserdem könne sich Russland in Syrien als Schutzmacht der orthodoxen Christenheit darstellen, wie das schon im 19. Jahrhundert der Fall gewesen sei.
Allerdings könne Russland Syrien auch wieder fallenlassen, sollte der Westen substantielle Zugeständnisse in einem anderen Konfliktgebiet machen. «Man gewinnt den Eindruck, Syrien diene Russland als Pfand in der Auseinandersetzung um die Ukraine», sagt der Berner Islamwissenschaftler.
Moskau hat die besten Karten
Überhaupt scheint Russland derzeit die Trümpfe in der Hand zu haben, um die Karten im Nahen Osten neu zu mischen. Einerseits kann Präsident Wladimir Putin die iranische Karte spielen – und das hat er bei der Vertreibung der Rebellen aus Aleppo in seiner Allianz mit Teheran bereits bewiesen.
Andererseits wird Putin vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan umworben und kann mit einer Annäherung an Ankara wiederum den Iran und selbst die Kurden unter Druck setzen, die ihrerseits Kriegspartei in Syrien sind.
Das einst für die arabische Welt so bestimmende Ägypten spielt im Machtpoker um Syrien und die Levante kaum eine Rolle. Der mit Hilfe Saudi-Arabiens an die Macht gekommene Präsident Abdel-Fattah al-Sisi schwanke in seiner Haltung zum Regime in Damaskus denn auch, meint Schulze. In letzter Zeit sei aus Kairo eher ein gewisses Verständnis für Assad und den Kampf seiner Armee zu sehen – auch im Zusammenhang mit einer Hinwendung zu Russland.
Auch Aussöhnung Ankara-Damaskus möglich
Die bereits angebahnte russisch-türkische Annäherung könnte letztlich sogar zu einem Ausgleich zwischen den bisherigen Gegnern Türkei und Assad-Regime in Syrien führen, meint Schulze. Das allerdings würde dann auf Kosten der Kurden gehen. Sie würden dereinst genau so isoliert dastehen wie jetzt die Terrormiliz Islamischer Staat. Der Iran dürfte ein enges Zusammengehen Moskaus mit Ankara mit Argwohn beobachten und um seine Stellung in der Region bangen.
Das Nachsehen hat bei alldem Saudi-Arabien, ebenfalls ein erbitterter Gegner des gegenwärtigen syrischen Regimes. Das streng sunnitische Königreich ist der machtpolitische Gegenspieler des schiitischen Iran, der mit Riad einen Stellvertreterkrieg im Jemen führt, indem er dort die schiitischen Huthi-Rebellen gegen den ins saudi-arabische Exil vertriebenen Präsidenten Abd Rabbo Mansur Hadi unterstützt.
Noch lange kein Gesamtsieg
Der Sieg des syrischen Regimes in Aleppo ist nun eine Tatsache. Allerdings könne Assad nicht mit einem baldigen Gesamtsieg in Syrien rechnen, sagt Schulze.
Zwar übe Damaskus eine direkte Herrschaft über die am dichtesten bevölkerten 20 bis 25 Prozent des Landes aus. Syrien sei aber ein stark kommunalisiertes Land. Und solange das Regime nicht die reale Herrschaft über einen Grossteil der etwa 4000 Gemeinden ausübe, könne von einem Sieg nicht die Rede sein.