Die Babyboomer sind im Pensionsalter, stillstehen wollen sie deshalb noch lange nicht. Bei vielen regt sich der Wunsch, die grauen Zellen weiter zu beschäftigen. Aber das Bildungssystem sei auf sie noch wenig vorbereitet, schreiben Experten in einem Buch.
Der Lebensstil im Alter hat sich verändert. Die «jungen Alten» stehen mit beiden Füssen im Leben, betreuen Enkelkinder, engagieren sich freiwillig und reden politisch mit. Und viele von ihnen wollen sich weiterbilden, um geistig fit zu bleiben und in der neu gewonnenen freien Zeit nach der Pensionierung lang gehegten Interessen nachzugehen.
Damit steht das Bildungssystem vor einer neuen Herausforderung, auf die es bisher schlecht vorbereitet ist. Noch ist es nämlich stark auf die Erwerbstätigkeit ausgerichtet. «Das Älterwerden hat sich verändert. Und das nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit», betont der Soziologe Roland Campiche gegenüber der Nachrichtenagentur sda.
Der emeritierte Professor für Religionssoziologie der Uni Lausanne und Ehrenpräsident der Seniorenuniversität des Kantons Waadt hat gemeinsam mit Kollegen das Buch «Die jungen Alten: vom Bildungssystem vergessen» verfasst, das unlängst beim Seismo-Verlag auf Deutsch erschienen ist.
Seniorenunis fehlt die Anerkennung
In dem Buch legen Campiche und seine Mitautoren dar, wo die Herausforderungen für das Schweizer Bildungssystem liegen: Zwar gibt es hierzulande neun Seniorenuniversitäten, mit deren Angebot die daran teilnehmenden Seniorinnen und Senioren laut Interviews auch zufrieden sind. Allerdings fehlen diesen Seniorenunis die finanziellen Mittel und die staatliche Anerkennung, um den neuen Anforderungen zu begegnen.
Insbesondere die Generation der Babyboomer, die in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, stellt hohe Ansprüche an ein Bildungsangebot nach der Pensionierung. «Sie sind gesünder und besser gebildet als viele Generationen vor ihnen, und sie verfolgen neue Projekte», so Campiche. Um ihre hohen Erwartungen an ein auf sie zugeschnittenes Bildungsangebot zu erfüllen, brauche es auch eine neue Form der Pädagogik.
«Diese Senioren-Studierenden wissen bereits sehr viel und bringen einen reichen Erfahrungsschatz aus ihrem Leben mit – und das wollen sie anerkannt wissen», sagt der Soziologe. Daraus ergibt sich ein neues Dozierenden-Studierenden-Verhältnis, das weniger auf Frontalunterricht und mehr auf Interaktion beruhe. Das Angebot verschiebe sich daher bereits vermehrt von Vorlesungen hin zu interaktiven Seminaren.
Vorurteile abbauen
«Wir müssen das Bildungssystem neu organisieren und auf ein lebenslanges Lernen ausrichten», sagte Campiche der sda. Dabei gehe es auch darum, diejenigen Seniorinnen und Senioren abzuholen, die derlei Bildungsangeboten aufgrund negativer Erinnerungen an die Schulzeit fernbleiben. Die Angebote seien nicht nur für pensionierte Akademiker gedacht, sondern auf alle Interessierte ausgerichtet.
Es gelte dabei insbesondere auch, Vorurteile abzubauen, wie dass man sich im Alter nichts Neues mehr aneignen könne. Die Botschaft sei: «Ich kann dort hingehen und ich werde verstehen, was sie vermitteln».
Wichtig sei das Thema Bildung nach der Erwerbstätigkeit aber auch aus gesundheitspolitischen Gründen: «Lernen hilft dabei, kognitives Kapital aufzubauen und den geistigen Abbau im Alter zu verzögern», so Campiche. «Die beste Prävention gegen neurodegenerative Erkrankungen ist es, das Gehirn zu nutzen.» Der Soziologe und seine Kollegen sind daher bereits für eine weitere Publikation im Austausch mit Gesundheitsexperten.