Im Visier der Rechtsradikalen

In Budapest erleben Menschenrechtsaktivisten, Schwule und Lesben immer mehr Drohungen und Gewalt durch Nazi-Gruppen. Regierung und Behörden schauen tatenlos zu und bedienen sich oft rechtsextremer Rhetorik. Manchmal müssen die Opfer selbst vor Gericht, wie die Geschichte von Andrea Giuliano zeigt.

Andrea Giuliano

(Bild: László Mudra)

In Budapest erleben Menschenrechtsaktivisten, Schwule und Lesben immer mehr Drohungen und Gewalt durch Nazi-Gruppen. Regierung und Behörden schauen tatenlos zu und bedienen sich oft rechtsextremer Rhetorik. Manchmal müssen die Opfer selbst vor Gericht, wie die Geschichte von Andrea Giuliano zeigt.

Andrea Giuliano wirkt erschöpft, dunkle Ringe unter seinen schwarzen Augen zeugen von zu vielen zu kurzen Nächten. Sein scharfer Blick, der die Umgebung souverän und hellwach untersucht, erzählt aber eine andere Geschichte. Es geht da um Engagement, es geht auch um politischen Kampf und um Lebenslust. 

Seit acht Jahren lebt der gebürtige Italiener in der ungarischen Hauptstadt. Als er nach seinem Studium der Sprachwissenschaft an einem europäischen Austauschprogramm für Praktikanten teilnahm, entstand zwischen ihm und Budapest eine unerwartete Liebe. «Vielleicht war es die Art und Weise, wie das Licht die Strassenzüge umarmt, vielleicht lag es an den Farben oder daran, dass diese Stadt immer anstrebte, ihr altes, grandioses Gesicht zu bewahren.»



Andrea Giuliano

Hat sich in Budapest verliebt, muss nun aber um seine Sicherheit bangen und blick in eine ungewisse Zukunft: Andrea Giuliano. (Bild: László Mudra)

Der junge Mann aus dem Süden, der sich für Fotografie und Kunst interessierte, liess sich jedenfalls vom mitteleuropäischen Charme begeistern. Am Anfang lief die Liebesgeschichte gut. Kurz nach dem EU-Beitritt präsentierte sich Ungarn als eine der Erfolgsgeschichten des ehemaligen Ostblocks – ein besonders offenes Land, in dem zahlreiche Menschen aus Europa trotz der zugespitzten politischen Auseinandersetzungen und wirtschaftlicher Unwägbarkeiten ihr neues Zuhause gefunden hatten, um Lebensqualität und Entdeckungslust zu kombinieren.

Doch spätestens seit 2010, unmittelbar nach dem Ausbruch der EU-weiten Wirtschaftskrise, zogen dicke, schwarze Wolken am rot-weiss-grünen Horizont auf. Bereits ein Jahr früher hatte es die Roma als erste, naheliegende Opfer getroffen. Mehrmals. Und tödlich. Giuliano engagierte sich schon damals gegen rechtsextreme Gewalt.

Als die Schlägertruppen der paramilitärischen Ungarischen Garde durch die Dörfer zogen, um die Roma einzuschüchtern, hielt er es für wichtig, Solidarität zu zeigen. «Ich war einer der wenigen, die bei solchen Aktionen einige Nächte in den kleinen Orten verbrachten, um die Gefahr eventuell abwenden zu können und die Nazis in die Schranken zu weisen.»



Hungarian Prime Minister Viktor Orban attends a debate on the situation in Hungary at the European Parliament in Strasbourg, France, May 19, 2015. REUTERS/Vincent Kessler

Premierminister Viktor Orban muss sich auch in Strassburg oft Kritik anhören wegen den Entwicklungen in seinem Land. (Bild: VINCENT KESSLER)

Kurz danach kam die rechtspopulistische Regierung von Viktor Orbán an die Macht. «Ab dem Moment traf es immer mehr Menschen, mit Budapest als offener, freundlicher Stadt war es so gut wie vorbei», erinnert sich der 33-jährige Menschenrechtsaktivist, der sich immer öfter verpflichtet fühlte, etwas gegen die Verrohung der ungarischen Gesellschaft zu unternehmen. Leicht war es nicht. Schliesslich verfügte der Premier über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und über eine zweifellose Popularität, die er auch benutzte, etwa um den unabhängigen Medien einen Knebel zu verpassen, die Obdachlosigkeit unter Strafe zu stellen oder die Ehe als heterosexuelles Privileg zu definieren. Dementsprechend fühlen sich rechtsextreme Gruppen immer häufiger ermutigt, ihre Agenda im und ausserhalb des Parlaments zu verfolgen.

«Zwischen der Regierungspartei Fidesz und der zweitstärksten politischen Kraft, der rechtsradikalen Jobbik, sind die Übergänge oft fliessend», erklärt der Soziologe János Ladányi, der an der Budapester Corvinus-Universität unterrichtet, «das treibt den Mainstream immer weiter nach rechts.» Tatsächlich schlug Orbán unlängst vor, die «Frage der Todesstrafe auf die Agenda zu setzen». Zum Thema Flüchtlinge und Migration plant die Regierung die Generalisierung der Haft und die Einführung von zwangsarbeitsähnlichen Programmen für «kulturfremde, illegale Einwanderer».

Auch dem engagierten Beobachter Giuliano ist diese gefährliche Entwicklung nicht entgangen. Im Gegenteil – er durfte sie in den letzten Monaten hautnah erleben. Wie jedes Jahr nahm der Fotograf und Menschenrechtsaktivist im Sommer 2014 an der schwul-lesbischen Pride Parade teil. Und weil er von den «üblichen, zahnlosen Aufrufen zu Toleranz und Respekt genug hatte», beschloss er, sich mit der angespannten politischen Situation kritisch und ein bisschen verspielt auseinanderzusetzen. Ziel seiner Parodie waren die homophoben und antisemitischen Randgruppierungen um Jobbik, die in letzter Zeit stärker in der breiten Öffentlichkeit auftreten, ohne einen ernstzunehmenden Widerstand seitens der Zivilgesellschaft befürchten zu müssen.



A girl holds a placard during a protest against Hungarian Prime Minister Viktor Orban's immigration policy proposals in central Budapest, Hungary, May 19, 2015. Hungarian Prime Minister Viktor Orban decried EU proposals for migrant quotas as

(Bild: BERNADETT SZABO)

Aus aktuellem Anlass karikierte Giuliano vor allem den «Verein der nationalgesinnten Motorradfahrer», jene rechtsextreme Gruppe, die kurz davor unter dem zweideutigen, judenfeindlichen Motto «Gib Gas» durch die Strassen von Budapest ziehen wollte. Die ungarische Justiz hatte die Aktion im letzten Moment gestoppt, doch der Jobbik-nahe Verein zeigt seitdem immer wieder Präsenz – vorzugsweise auf Veranstaltungen, wo eine Revision der 1920 festgelegten Grenzen des Landes gefordert wird.

Die Parodie ging unter anderem mit der mittlerweile allgegenwärtigen Landkarte Grossungarns ins Gericht: Laut Anhängern der rechtsnationalen Bewegung sollen grossflächige Gebiete fast aller Nachbarländer wieder in Ungarn eingegliedert und damit die «Ungerechtigkeit» der nach dem Ersten Weltkrieg unterzeichneten Friedensverträge wieder gutgemacht werden. In der Tat ist diese Landkarte immer öfter zu sehen – als Aufkleber an zahlreichen Autos, als Aushängeschild in den Läden oder eben als Logo der «nationalgesinnten Motorradfahrer». Dementsprechend zeigten sich die Rechtsextremen über Giulianos kleine Performance wenig amüsiert. Umso weniger, als sich der gebürtige Italiener gerne öffentlich zu seiner Homosexualität bekennt, fehlerfrei Ungarisch spricht und damit nicht als ahnungsloser Ausländer abgetan werden kann.

Vor der bunten Menge, die die alternativen Läden der Hauptstadt besucht, hielt der Italiener eine kurze Rede im unverkennbaren Stil der Nationalisten. Anspielungen auf pikante Details aus dem Privatleben diverser Rechtsradikaler sorgten für Belustigung: Immer wieder plagen Sexskandale die Jobbik-Führungsriege. Mal stellt sich heraus, dass ein auffällig homophober Kadermann ein Profil mit expliziten Bildern auf einem schwulen Kontaktportal unterhält, mal tauchen Videos auf, in denen «nationalgesinnte Motorradfahrer» Striptease-Nummern aufführen. «Das mit der traditionellen Moral ist halt nicht so einfach», mockiert sich Giuliano. «Überall nur Versuchungen und Pannen.»

Ersten Drohungen folgten Hausbesuche bei Giuliano – glücklicherweise konnte er abtauchen

Kurz nach der Pride Parade kamen vergangenen Juli die ersten Drohungen und Beleidigungen. «Schwuchtel, wir werden uns um dich kümmern», so der Tenor zahlreicher Telefon- und Mail-Nachrichten. Sándor Jeszenszky, der Vorsitzende der «nationalgesinnten Motorradfahrer», zeigte Giuliano wegen Verleumdung und «respektlosen Umgangs mit nationalen Symbolen» an. Dann suchten ihn diverse Jobbik-Kader in seinem Büro und sogar zu Hause auf – zum Glück ohne Erfolg.

«Arbeitet die italienische Schwuchtel hier?», fragten zwei Männer in Anzügen die verblüffte Sekretärin, die sofort die Sicherheitsfirma zu Hilfe rief. Einer der unangekündigten Besucher war ein früherer rechtsradikaler Abgeordneter. «Wenige Tage später standen zwei Schergen vor meiner Haustür», erinnert sich Giuliano. «Zum Glück habe ich die Gefahr rechtzeitig erkannt und konnte schnell verschwinden. Eine Woche lang musste ich dann bei Freunden übernachten.»

Als seine persönlichen Daten auf mehreren Neonazi-Portalen veröffentlicht wurden und in Internet-Foren von seiner Kreuzigung oder Kastration die Rede war, wurde dem Aktivisten klar, dass sein Leben tatsächlich in Gefahr ist. Seitdem musste der junge Mann fünfmal umziehen. Gleichzeitig wandte er sich an die TASZ, eine der bekanntesten ungarischen Menschenrechtsorganisationen, die ihm Rechtsvertretung anbot. Seine Klage wegen der immer häufiger werdenden Drohungen und der Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte brachte bisher allerdings nichts: Zweimal hat die ungarische Polizei versucht, die Akte «aufgrund mangelnder Beweise» zu schliessen, obwohl die Drohbotschaften bereits Dutzende Seiten füllen. Rechtsanwalt Szabolcs Miklós Sánta gibt sich trotzdem zuversichtlich. Vor Kurzem wurde eine rechtsradikale Frau, die 2013 an der Pride Parade einen der Teilnehmer physisch angegriffen hatte, zu drei Jahren Haft verurteilt. Es war eine Premiere in der Geschichte der ungarischen Justiz.

«Es wäre falsch und unwürdig, mich einschüchtern zu lassen.»


Andrea Giuliano muss sich vor Gericht wegen Verleumdung verantworten.

Dennoch sei klar, dass die Behörden nur dann etwas unternähmen, wenn der internationale und interne Druck massiv sei, behaupten die Vertreter der TASZ. Am 10. Juni steht der erste Termin im Verleumdungsprozess gegen Giuliano an. Doch der Aktivist will auf keinen Fall aufgeben. «Es wäre falsch und unwürdig, mich einschüchtern zu lassen.» Die Freiheit müsse gegen den Rechtsextremismus verteidigt werden, ebenso das bunte, offene Budapest, seine Liebe auf den ersten Blick. Die Feier dürfe nicht aufhören, der Kampf um die Demokratie auch nicht, der im heutigen Ungarn einen zunehmend hohen Preis fordert.

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