Die Wohnsiedlung «Im Vogelsang» entstand 1925 und war für die damalige Zeit eine vorbildliche, familienfreundliche Anlage. Doch welche Zukunft hat diese Insel im städtischen Tumult und wie passt das denkmalgeschützte Ensemble in die sich rasant entwickelnde Stadt? Ein Besuch im Hirzbrunnen-Quartier.
«Sind Sie Architekten?», fragt uns eine ältere Dame, als wir durch die Gärten flanieren. Das Interesse von Architekten an der Siedlung scheint gross zu sein, denken wir uns, dennoch müssen wir die Frage verneinen. Es kommen hie und da Leute vorbei, doch «früher sind es mehr gewesen», sagt sie uns in einem eher erleichterten Ton. Sie gebe aber gerne Auskunft. Seit über fünfzig Jahren wohne sie hier, habe drei Kinder in diesem kleinen Haus aufgezogen. Heute widme sie ihre Zeit dem blühenden Garten, aber es gebe viel zu tun und sie könne halt nicht alles machen.
Die weiteren Gärten der Siedlung strahlen nicht gleichermassen viel Toleranz gegenüber den Launen der Natur aus. Die meisten sind nahtlos mit einem gepflegten Rasen überdeckt, haben einen kleinen Sitzplatz, der von einer Reihe Schweizer-Fähnchen geziert ist, und sehen zur Zeit unseres Besuchs am späteren Nachmittag eher verlassen denn belebt aus. Keine Spur von spielenden Kindern oder Nachbarn, die sich über ihren Gartenzaun hinweg unterhalten.
Genossenschaft «Im Vogelsang»
Die Genossenschaftssiedlung «Im Vogelsang» wurde 1925 innerhalb eines halben Jahres erbaut. Sie tritt als siebenzeilige Wohngenossenschaft in Form, die aus zwei Gevierten und je zwei einzelnen Blocks besteht. Die 48 Häuser der Siedlung treten als einstöckige Kleinhaustypen in Erscheinung. Die einzelnen Einheiten sind mit drei ähnlich grossen, quadratischen Zimmern ausgestattet und beinhalten eine Wohnküche, einen Anbau mit Waschküche sowie einen Geräteschuppen. Die geringe Hausbreite von 9,25 Metern erstaunt da umso mehr.
Die Häuser sind von kargen geometrischen Verhältnissen geprägt, besitzen eine hohe geschlossene Dachfläche, eine zentrale Haustüre und bestehen durchgehend aus Backsteinmauerwerk. Ihre durchgestaltete Zweckmässigkeit weist denn auch eine strikte Trennung von Strassen- und Gartenraum auf: Uniformität und Geschlossenheit auf der einen, Individualität und Offenheit auf der anderen Seite. Dieser Unterschied von der Strassen- und Schauseite zum Innenhof ist frappant.
Ehemals befanden sich in der Siedlung auch zwei Konsumgeschäfte, ein Heim für alleinstehende Mütter und ein Kindergarten, der noch immer seinen Zweck erfüllt. Zudem ist heute ein Durchgangsheim an die Siedlung angebunden, das für Kinder, die aus erzieherisch, sozial oder psychisch überlasteten Familien stammen oder sich in einer akuten Krisensituation befinden, ein Unterkommen bietet. Ein Altersheim und ein Schwimmbad konnten aus finanziellen Gründen nicht realisiert werden.
Sozialer Wohnraum unter Sparbedingungen
Die Siedlung «Im Vogelsang» wurde vom Staat subventioniert und war eine Massnahme gegen die einengenden und unhygienischen Verhältnisse in den Mietskasernen jener Zeit und schuf Platz für die rasant ansteigende Bevölkerung. Grund für das enorme Wachstum war die zunehmende Industrialisierung. Eine weitere Zuspitzung erfuhr die bestehende Wohnungsnot durch den Ersten Weltkrieg. 3000 Obdachlose lebten zu diesem Zeitpunkt in Basel.
Da die Gruppe der gering verdienenden und kinderreichen Familien auf Wohnungssuche dennoch am grössten war, galten diese auch als Zielgruppe: Familien mit vier bis zehn Kindern wohnten in der Siedlung. Die guten Lebensbedingungen führten dazu, dass die Mieter selten wechselten, und garantierten ein stabiles Wohnumfeld.
Entstehung des Quartiers
Die Siedlung wurde von den Architekten Hans Bernoulli (1876–1959) und August Künzel entworfen. Diese hatten zuvor eine Landgenossenschaft lanciert, die das Landgut Hirzbrunnen erwarb, welches durch den Bau des Badischen Bahnhofs zwischen 1906 und 1913 massiv an Wert eingebüsst hatte. Ein Teil dieses Guts ist in der Form des Claraspital Parks erhalten geblieben, um welchen sich heute verschiedene Siedlungen gruppieren, die unter der Federführung Bernoullis entstanden. Nebst seinem Wirken im Hirzbrunnenquartier baute er zahlreiche andere Siedlungen, wie beispielsweise die Genossenschaftssiedlungen «Im langen Loh» und «Landauer», der Getreide-Silo im Rheinhafen oder über die Kantonsgrenze hinweg die Bernoullihäuser an der Hardturmstrasse in Zürich. Im Rahmen der von England kommenden Gartenstadtbewegung der 1920er Jahre und der Wohnausstellung WOBA von 1930 wurden in Basel weitere Siedlungen gebaut. Beispielsweise die Wohnsiedlung In den Schorenmatten.
Hans Bernoulli engagierte sich weitläufig für sozialen Wohnungsbau und setzte sich für die Kommunalisierung des Bodens ein: «Grund und Boden der Stadt, Hausbesitz den Privaten». In seiner politischen Tätigkeit als Nationalrat brachte er seine sozial-liberalen Ansichten ein. Doch nicht überall fand er damit Anklang. So wurde ihm 1938 von der ETH Zürich sein Professortitel aberkannt, nachdem er sich kritisch über die staatliche Finanzpolitik geäussert und politisch satirische Gedichte veröffentlicht hatte. Später wurde ihm von der Universität Basel hingegen der Titel des Ehrendoktors verliehen.
Stadtentwicklung unter Auflagen des Denkmalschutzes
Aufgrund der historischen und architektonischen Bedeutung ist die Siedlung «Im Vogelsang» heute denkmalgeschützt. Während die Strassenseite der Häuser in ihrer Erscheinungsform bewahrt werden muss, darf zur geschützten Gartenseite ausgebaut werden. Dabei übernimmt die Genossenschaft 20’000.- der anfallenden Renovationskosten. Schlussendlich stellt sich aber die Frage, ob die Bewahrung der ursprünglichen Erscheinung nach vorne und der individuelle Ausbau nach hinten nicht im Widerspruch zur Authentizität stehen. Und ob die konservierende Massnahme in einer Kulissenhaftigkeit endet?
Die Siedlung als ruhige Insel im städtischen Tumult hat sicherlich ihren Reiz und bietet einen Mehrwert an Wohnqualität. Doch aus der Sichtweise der heute gängigen Bauweise, die gerade in städtischen Gebieten eine Erhöhung der Stockwerke vorsieht, um mehr Wohnraum zu generieren, ist die Siedlung «Im Vogelsang» aus dem Jahre 1925 sicherlich nicht mehr zukunftsfähig. Zum einen wächst der Anspruch an Wohnfläche pro Kopf, womit eine Zusammenlegung jeweils zweier Einheiten denkbar wäre, was wiederum die Anzahl Bewohner vermindern würde. Zum anderen prophezeit die Wohnraumentwicklung Basel-Stadt für das Jahr 2030 eine Bevölkerungszahl von 200’000 Einwohnerinnen und Einwohnern und einer zusätzlich benötigten Menge an Wohnungen von 4400 Stück über die nächsten zehn Jahre. Durch ihren Schutz wird die Siedlung der Nachwelt noch ein paar Jahre erhalten bleiben, doch ob andere ähnliche Siedlungen schon bald weichen müssen wird sich im Rahmen der Stadtentwicklung zeigen.