Wer bin ich selbst? Und wenn ja, wieviele? Die Schwedin Lisa Langseth liefert mit ihrem zweiten Film Antworten und sehr viel mehr Fragen.
Erika ist eine selbstsichere Person. Ihr Leben ist präzise geplant. Mit ihrer ersten Niederkunft sieht alles mit einem Mal anders aus. Durch die vorzeitige Geburt prallen Plan und Wirklichkeit aufeinander: Der anberaumte Kaiserschnitt kommt zu spät. In einer dramatischen Entscheidung wird der Kreissaal zur Theaterbühne. Während Erika ein Leben gibt, verliert sie in ihrem eigenen Leben dem Boden unter den Füssen.
«Hotell» fesselt von Beginn weg – durchaus ambivalent. Während die verstörte Mutter an lauter gesund schreienden Babys vorbeitappt, empfängt sie ihr Kind mit dem regelmässigen Piepsen der Intensivstation. Zu Hause sitzt die Mutter vor dem Gitter des Kinderbettes wie eine Gefangene. Dassind Bilder, die sich einprägen, die einem helfen, den Weg in die Geschichte zu finden.
Der Baby-Blues
Was folgt, ist der Baby-Blues. Verstärkt wird diese postnatale Depression bei Erika durch die Behinderung des Kindes. Schuldgefühle verstärken ihre Verstörung. In der Gesprächsgruppe trifft Erika auf Menschen, die ebenfalls um einen Überblick über ihre eigene Persönlichkeit ringen und bringt es auf den Punkt: «Wenn ich in mich hineinschaue, kommt es mir vor, als lebte ich in einem Hotel. Ich erwache jeden morgen in einem anderen Zimmer.»
Einer spontanen Idee folgend trifft sich Erikas Therapie-Gruppe für eine «Woche der Wahrheit» – in einem Hotel. Damit sind wir mitten in Erika hineinversetzt. Was normalerweise unter der Obhut einer Therapeutin geschieht, nehmen die fünf Gruppenmitglieder hier nun selber in die Hand: Jeder stellt dar, wie er ist. Jeder skizziert, wie er sein möchte. Jeder macht sich auf die Suche danach, was ihn daran hindert.
Dramatische Selbst-Findung
«Wer bin ich selbst?»- (und wenn ja, wie viele? Würde Richard David Precht hinzufügen). Um nicht weniger dreht sich Lisa Langseths «Hotell». Menschen, die, um ihre Identität ringen, treffen aufeinander. Distanzlos. Neugierig. Naiv. Menschen, die etwas ändern wollen: Sich selbst. Und damit die anderen verstören. Langseth reiht sich damit in eine nordische Film-Tradition von «Das Fest» oder «Idioten», die letztlich den grossen schwedischen Theater-Autoren geschuldet ist.
Als Theater-Autorin kann Lisa Langseth in «Hotell» bereits auf grosse Erfahrung zurückgreifen. Dramaturgisch wirkt der Film allerdings eher theatral überkonstruiert, auch wenn der seiner Ideen-Konstruktion treu bleibt. Langseth beweist immerhin in den überzogenen Situationen ein grandioses Gespür für die grosse realistische Klasse der der Schauspielerinnen. Sie holt aus Alicia Wikander (Die Königin und der Leibarzt, Anna Karenina) und Mira Eklund darstellerische Bestleistungen heraus.
Erst dort, wo die Therapiegruppe in die Realität zurückkehrt, greift das dramaturgische Konstrukt endlich böse an: In dem Hotel, wo die Gruppe ihre psychodramatischen Sitzungen abhält, findet eine Hochzeitsfeier statt. Als das Selbst-Therapie-Quintett, versucht, mit dem neu gewonnen Selbst-Gefühl in die Wirklichkeit zurückzukehren, erweisen sich die Hochzeitsgäste als mindest ebenso gestört. Jetzt scheitern nicht die Selbst-Sucher, sondern jene Selbst-Darsteller, die glauben gar nichts darzustellen. Die Normalität zeigt mehr Therapie-Bedarf, als die verstörten Selbst-Verwirklicher.
Die nordische Tradition der Wahrheitsfindung
Langseth trifft mit «Hotell» eine bittere Wirklichkeit. Die Gesellschaft ist auch in Schweden auf dem Weg der Entsolidarisieung. Die Individuen, die noch in der solidarischen schwedischen Gesellschaft aufgewachsen sind, bezeugen Entfremdungs-Ängste. «Hotell» deutet den Zerfall der entsolidarisierten Gesellschaft nur an. Die Individuen suchen – ohne Individualität – nach ihrem Selbst: Eine Scheidung kann auch eben einmal schnell per Handy gesagt, beschlossen und damit auch entschieden werden. Das wirkt im Film wie aus einer Sekte, denkt aber nur zu Ende, was gerade so in der gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Anfängen steckt.
Irritierend bleib «Hotell» vielleicht gerade deshalb. Langseth wagt sich weit hinaus in eine dramatische Auseinandersetzung, die nur distanzlos funktioniert. Hinter der Idee, die Selbst-Findung mit einer offenen Versuchsanordnung zu verbinden, steckt tatsächlich reiz- wie verhängnisvoller Zeitgeist. Die Face-Book-Generation spielt es sich täglich vor: Die eigene Identität scheint frei wählbar. Wer sich am Abend als der gleiche Mensch wieder ins Bett legt, als der er am Morgen aufgestanden ist, widersetzt sich einer Wirklichkeitsaufassung, die sich zunehmend auf «Copy/Paste» verlässt.
Der Film läuft in den Kult-Kinos