Es gibt für Trainer kein grösseres Lob als dieses: Das Team trägt seine Handschrift. An der EM trifft dies exemplarisch auf Italien zu. Die Mannschaft spielt, wie ihr Trainer handelt: kompromisslos.
Antonio Conte ist ein Mann, der ohne Kompromisse seinen Weg geht. Zwei Daten stehen exemplarisch für diesen Charakterzug. Am 15. Juli 2014 legte er sein Traineramt bei Juventus Turin nieder – drei Tage nach Beginn der Saisonvorbereitung. Am 15. März 2016 teilte er dem italienischen Verbandspräsidenten Carlo Tavecchio mit, dass er nach der EM als Nationalcoach aufhören würde – eine Woche vor den ersten Testspielen im EM-Jahr.
Inwiefern diese beiden Aktionen die Kompromisslosigkeit von Conte dokumentieren? In beiden Fällen fühlte sich der 47-Jährige aus dem süditalienischen Apulien nicht genügend respektiert, weil seinen Forderungen niemand nachgekommen war. Bei Juventus Turin hatte Conte nach drei Meistertiteln in Folge das Gefühl, den nächsten (europäischen) Schritt nicht vollziehen zu können. Er will gespürt haben, dass der Klub seine Transferwünsche nicht erfüllen würde. Beim Nationalteam fühlte er sich von den Klubs nicht unterstützt; auf seine Idee, ihm ein paar Tage für Zusammenzüge zu gewähren, war die Profi-Abteilung Lega Calcio nicht eingegangen.
Contes Handeln wird meist bestimmt durch dieses Gefühl von verletztem Stolz oder nicht gezolltem Respekt. Fühlt er so, geht er nicht nur kompromisslos vor, sondern läuft auch zur Bestform auf. Dass in Italien die Medien und Fans im Vorfeld der EM nicht an die eigene Mannschaft glaubten, war Wasser auf Contes Mühlen. Ausserhalb seines Arbeitsumfeldes ist er ein umgänglicher und lustiger Mensch. Wechselt er aber vom Privatmann zum Trainer, wird Conte stur, zickig und ein Mann, der in klarem Schwarz-Weiss-Muster denkt. Niemand ist mit uns? Dann ziehen wir in den Kampf gegen alle!
«Wir gegen den Rest der Welt» als Kraft spendendes Motto für einen Siegeszug: Insofern ähnelt Conte dem Portugiesen José Mourinho und dem Argentinier Diego Simeone. Vielleicht geht er dabei eine Spur subtiler und mit ein wenig mehr Stil vor. Doch das Muster ist das Gleiche. Conte bündelt alle internen Kräfte und macht die Schwächen seiner Mannschaft zu den Stärken. Fehlt es an der spielerischen Qualität, formt er eine laufstarke Mannschaft, «eine Kriegsmaschine», wie er sich immer wieder ausdrückt.
Dass Italien vor der EM die beiden Mittelfeldsäulen Claudio Marchisio und Marco Verratti wegbrachen, hat Conte letztlich vielleicht sogar in einen Vorteil umgekehrt. Er hat sein Team dadurch noch mehr auf die Rolle des unterschätzten Underdogs einschwören können. Vor diesem Hintergrund erstaunt nicht, dass die Italiener von allen EM-Teilnehmern bisher am meisten Kilometer zurückgelegt haben (455 km in vier Spielen). Conte hätte es sich nach dem Ausfall von Marchisio und Verratti einfach machen und den von den Medien geforderten Andrea Pirlo zur Rückkehr bewegen können. Doch dann hätte die Geschichte von der talentbefreiten Squadra Azzurra nur noch zu Hälfte gestimmt.
Conte steht im Verdacht, dieses Bild umso stärker aufrecht erhalten zu wollen, je näher die EM kam und je grösser die Hürden auf dem Parcours durchs Tableau in Frankreich werden. Schon bald nach dem Sieg im Achtelfinal gegen Titelverteidiger Spanien sagte Conte deshalb mit Blick auf den nächsten Gegner Deutschland: «Die Deutschen sind uns in allen Belangen überlegen. Gegen Spanien waren wir aussergewöhnlich, gegen Deutschland müssen wir super-aussergewöhnlich sein.»
Den Parcours, den Conte seit dem Amtsantritt vor zwei Jahren mit Italien absolviert hat, gleicht der Performance von Juventus Turin im ersten Jahr unter ihm. Die Turiner hatten zwei Saisons in Folge die Serie A auf Platz 7 abgeschlossen. Unter Conte wurden sie auf Anhieb Meister, und dies ohne eine einzige Niederlage erlitten zu haben. Von null auf hundert ging Conte auch mit Italien. Die Mannschaft war an der WM in Brasilien schändlich in der Vorrunde gescheitert. Unter Conte gewann sie das erste Spiel gegen den WM-Dritten Holland sogleich in überzeugender Manier, sie holte in der Qualifikation gegen die favorisierten Kroaten zwei Remis und blieb in der gesamten Ausscheidung in zehn Spielen ungeschlagen. Der bisherige Weg an der EM ist bekannt: Er wird geschmückt von zwei 2:0-Siegen gegen die Mitfavoriten Belgien und Spanien.
Unter Conte fand erst Juventus Turin, dann das italienische Nationalteam wieder zu sich selber. Nach schwierigen Jahren im Nachgang des Manipulationsskandals im Jahr 2006 war es Conte, der beim Rekordmeister wieder die arrogante Attitüde der Unbesiegbarkeit implementierte. Beim Nationalteam war es Conte, der nach den vier Jahren unter Cesare Prandelli, die im Suchen nach spielerischer Brillanz und dominantem Ballbesitz ein stetes Auf und Ab waren, die ur-italienische Kernkompetenz zurückbrachte: hartes Verteidigen, kompaktes Teamgefüge, schnelle und effiziente Konter. Hart, kompakt, schnell und effizient. Man kann diese Attribute auch in einem einzigen Wort zusammenfassen. Es ist das Adjektiv, das Antonio Conte am besten charakterisiert: kompromisslos.