In «Festen» wie in «Jagten» geht Tomas Vinterberg den Verheerungen nach, die sexueller Missbrauch anrichten kann. War es in «Festen» noch das Opfer, das zum Täter wurde, wird in «Jagten» der Täter zum Opfer. Eine brilliante Hexenjagd.
Mitten in der amerikanischen Nachkriegsprüderie schrieb 1953 Arthur Miller seine Hexenjagd. Damals prangte er die Hysterie an, mit der Andersdenkende verfolgt wurden. In Jagten denkt der dänische Regisseur Vinterberg über die Hysterie nach, mit der Gleichdenkende sich gegenseitig aufschaukeln. Im Kern stellen beide vehement die sexuelle Moral in Frage.
Lucas hat seine Stelle als Primarlehrer verloren und steckt mitten im Sorgerechtsstreit mit seiner Ex-Frau um den Sohn. Mads Mikkelsen spielt diesen Lucas, der als Kindergärtner am Ort, an dem er aufgewachsen ist, eine neue Stelle findet – als einen wortkargen, sensiblen Kerl.
Lucas ist beliebt bei den Kindern wie Nachbarn, als er der fünfjährige Klara, der Tochter seines besten Freundes, einen Kuss auf den Mund verweigert, weil «das nur zwischen Mama und Papa sein soll». Die Kleine macht die eifersüchtige Bemerkung gegenüber der Kindergartenleiterin, sie habe Lucas’ Penis stehen sehen, und löst damit eine leise, aber umso gewaltigere Lawine aus.
Die Kreise um den vermeintlichen Sexualtäter werden bald enger, die Sorgenfalten tiefer, und bald wird die Menschenjagd handfest eröffnet. Seine Scheiben werden eingeschmissen. Sein Hund getötet. Sein Sohn belästigt. Das Einkaufen im Dorfladen wird ihm ebenso untersagt, wie das Betreten des Kindergartens.
Hat Vinterberg in Festen noch die Verheerungen des Missbrauchs aus der Sicht des Opfers untersucht, so findet er in Jagten zurück zum Anfang, indem er uns jetzt die Verheerung der Täterin präsentiert – als unschuldiges kleines Kind. Clara nämlich, die auch hätte das Opfer sein können, ist eine unschuldige Täterin. Sie ahnt nicht, was sie mit ihrer giftigen Bemerkung bei den Erwachsenen anstösst. Die Maschinerie, die die Kindergärtnerin in Gang kommt, kennt bald keine Grenzen mehr. Niemand entkommt den Fesseln der Voreingenommenheit. Die kleine Klara ist bald die einzige im Dorf, die weiss, etwas «Blödes gesagt » zu haben, und dies auch mehrfach sagt – zu spät. Dies ist das Sublime in Vinterbergs Missbrauchs-Analysen, in «Festen» wie in «Jagten»: Dem Kind hört keiner richtig zu.
Als es zum Eklat im Dorf kommt, ist es auch für die Versöhnung zu spät: Was bleibt, ist die Eröffnung der nächsten Jagdsaison – zu der die Männer wieder mit geschultertem Gewehr in den Wald ziehen.