Janko Tipsarevic und der lange Atem

Gegen die Weltrangnummer 9 Janko Tipsarevic eröffnet Roger Federer heute seine Vorrundengruppe beim ATP. Der Serbe, der sich neben dem Tennisplatz mit den Philosophen auseinandersetzt, hat ein gutes Jahr hinter sich.

Roger Federers Startgegner beim ATP Finale in London: Der Serbe Janko Tipsarevic, hier bei der Viertelfinal-Niederlage in Paris gegen den Polen Jerzy Janowicz. (Bild: Reuters/BENOIT TESSIER)

Gegen die Weltrangnummer 9 Janko Tipsarevic eröffnet Roger Federer heute seine Vorrundengruppe beim ATP. Der Serbe, der sich neben dem Tennisplatz mit den Philosophen auseinandersetzt, hat ein gutes Jahr hinter sich.

Das neueste Objekt seiner Lese-Begierde erscheint ein wenig paradox, wenigstens auf den ersten Blick. «Blink – die Macht des Moments» heisst das Werk des Amerikaners Malcolm Gladwell, das den Tennisprofi und Literaturfreund Janko Tipsarevic (28) gerade umtreibt. Es geht, verkürzt gesagt, um die These, dass die Entscheidungen, die ein Mensch impulsiv in den ersten beiden Sekunden einer Lebenssituation trifft, ganz überwiegend die richtigen sind.

Federer am Dienstag um 14.45 Uhr

Andy Murray und Novak Djokovic sind erfolgreich in das Masters in der Londoner O2-Arena gestartet. Murray siegte 3:6, 6:3, 6:4 gegen Tomas Berdych, Djokovic gegen Jo-Wilfried Tsonga 7:6 (7:4), 6:3. Die Gruppe B eröffnen am Dienstag Roger Federer und Janko Tipsarevic (14.45 Uhr, SF2 live), danach trifft Paris-Sieger David Ferrer auf Basel-Sieger Juan Martin del Potro.

Das Klassement

Tipsarevic muss selbst ein wenig lächeln, als er über das Buch und sich selbst nachdenkt: «Ich habe eigentlich viel falsch gemacht, wenn ich etwas aus dem Bauch entschieden habe.» Und mit der Macht des Moments, Untertitel des Wissensschmökers, habe sein Leben eigentlich auch gerade nicht viel zu tun: «Ich würde eher sagen: Ich habe jetzt die Macht des langen Atems.»

Aber natürlich mag er die Lektüre nicht missen, die anregende Auseindersetzung mit Gott, der Welt, der Wissenschaft, der Liebe oder auch der Politik. Seine Reisen um die Erde, aber auch und besonders seine Bücher haben ihm die Welt erschlossen – ihm, dem zweiten Serben in der Weltklasse des Tennis-Wanderzirkus.

Die stabilste Saison

Tipsarevic hasst es, wenn man ihm den Stempel des anderen, unkonventionellen Professionals aufpappt, aber in der Szene der Playstation-Junkies und Partyjungs fällt der stille Denker unweigerlich aus der Schablone heraus.

Als leiser, beharrlicher und methodischer Arbeiter hat er sich indes mit Ende Zwanzig in der Weltklasse etabliert und nimmt neben Frontmann Novak Djokovic (Platz 1) als anderer stolzer Vertreter seiner Nation einen Top-Ten-Rang ein (Platz 9). Und am Ende seiner stabilsten Saison im Profi-Circuit (57:25-Siege) darf er nun auch erstmals aus eigener Kraft beim rauschenden ATP Tour Finale teilnehmen, der inoffiziellen WM der Berufsspieler in der 02-Arena von London.

Im letzten Jahr war er ins Achter-Feld aufgerückt, als Lokalmatador Andy Murray nach seiner Startniederlage gegen David Ferrer verletzt ausstieg. Doch 2012 liess Tipsarevic selbst seinen Schläger sprechen und machte den WM-Auftritt durch letzte Punktgewinne beim Pariser Masters perfekt, nachdem schon seit geraumer Zeit klar war, dass Rafael Nadal aus gesundheitlichen Gründen in London fehlen würde.

Die fünf Sätze gegen Federer

«Es ist der Ausdruck meiner neuen Ausgeglichenheit und inneren Harmonie, dass ich jetzt so weit vorne gelandet bin», sagt Tipsarevic, am Dienstag (14.45 Uhr, SF2 live) der erste Gegner von Titelverteidiger Roger Federer.

Tipsarevic gehörte viele Jahre der oberen Mittelklasse der Tennis-Hackordnung an, ein sehr guter Mann, dem aber irgendwie der letzte Biss und die letzte Durchschlagskraft fehlten. Vor fast fünf Jahren rückte er einmal in den Fokus der Weltpresse, als er bei den Australian Open in einer Fünf-Satz-Schlacht beinahe Roger Federer aus dem Turnier gekippt hätte, den fünften Durchgang verlor er 8:10.

Doch damals war er nur ein Spieler, der über die Macht in ausgewählten, blitzlichtartigen Momenten verfügte. «Mir fehlte einfach die Balance in meinem Leben, um dauernd gute Leistungen zu bringen», sagt Tipsarevic. Oft zerfrass er sich regelrecht in der Lektüre und Analyse immer neuer Bücher, Kants Philosophie stand genau so auf dem dauernden Prüfstand wie Zweigs «Schachnovelle».

Die grosse Ratlosigkeit

Dann liess er sich, «etwas hauruck», wie er heute sagt, das Zitat des russischen Schriftstellers Dostojewski auf den Unterarm gravieren: «Schönheit rettet die Welt.» Sein Leben, sagt Tipsarevic, sei seinerzeit «einfach von einer zu grossen Unordnung geprägt» gewesen: «Da war eine grosse Rastlosigkeit in mir drin.»

In der Ruhe liegt jetzt Tipsarevics Kraft. Stabilität und Sicherheit findet er durch seine «wunderbare Partnerschaft» mit Ehefrau Biljana, «das hilft mir auch, positive Energie für mein Tennis zu schöpfen».Sein Trainer Dirk Hordorff verordnete ihm zudem einen geregelteren und klar durchgetakteten Arbeitsplan als Profi – weshalb der Serbe immer dann konzentriert und leistungshungrig wirkt, wenn es zählt im Tourbetrieb

Der lange Marsch der serbischen Spieler

Die alte Sprunghaftigkeit des Mannes mit den exzentrischsten Brillengestellen der Tenniswelt ist passe, gleichmässig engagiert holte er übers ganze Jahr seine Punkte, festigte immer wieder seinen Platz in den Top Ten. Oft nutzt Tipsarevic auch die erstklassigen Trainingsbedingungen im Akademiegeschäft der beiden ehemaligen Davis- Cup-Spieler Alexander Waske und Rainer Schüttler in Offenbach und zeigt ganz nebenbei auch noch den heranwachsenden Azubis Tricks und Kniffe.

Seinen grössten Erfolg als Tennisspieler erlebte er nicht als Individualist, sondern als Teil der serbischen Mannschaft, die im Dezember 2010 den Davis Cup gewann. Auch dieser Erfolg war Ergebnis eines langen Marsches aller serbischen Spieler durch die Institutionen – und nichts Augenblickhaftes, nichts, was mit der Macht eines schnellen Moments zu tun gehabt hätte.

«Wir kamen aus einer Welt, die in Schutt und Asche gelegen hatte», sagt Tipsarevic, «aber wir haben uns nicht beklagt. Wir haben unsere Chance gesucht – und genutzt.»

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