Der britische Kunstkritiker John Berger hat uns das Sehen gelehrt. Nun ist er 90-jährig in Paris gestorben.
Es war ein grosses Versprechen, das uns John Berger in den Siebzigerjahren gab:«Wenn wir Malerei anschauen, werden wir nicht nur etwas über die Bilder erfahren, sondern auch über uns selbst – und die Welt, in der wir leben.» Berger stand vor einem blauen Hintergrund, seine stahlblauen Augen blitzten und wir wussten: Der wird was Gutes erzählen.
John Berger wurde am 5. November 1926 in Hackney geboren. Nach einem Kunststudium an der Central School of Art in London arbeitete er als Kunstmaler und Lehrer und begann, Kunstkritiken für das britische Magazin «New Statesman» zu verfassen. Mit 32 veröffentlichte er seinen ersten Roman «A Painter of Time», die Geschichte eines ungarischen Malers im Exil, die nach nur einem Monat wegen vermuteter prokommunistischer Tendenzen vom Verlag zurückgenommen wurde (Der Kritiker Stephen Spencer hatte damals seine ganz eigene Meinung im «Guardian»: Dieses Buch «stinks of the concentration camps» und hätte nur gerade von einer einzigen anderen Person geschrieben werden können – Joseph Goebbels).
Geld für die Black Panthers
1972 sorgte Berger noch einmal für politische Furore, als er für seinen Roman «G» den Man-Booker-Prize gewann, die wichtigste Literatur-Auszeichnung Englands. Er wolle gegen die Geschäftspolitik eines Lebensmittelgrosshändlers protestieren, der als Sponsor der Auszeichnung auftrat, verkündigte er. Und stiftete die Hälfte des Geldes der afroamerikanischen Black-Panther-Bewegung in den USA zur Bekräftigung seiner marxistischen Prinzipien.
Mit der anderen Hälfte wanderte er aus, wohnte in diversen Teilen der Welt und liess sich schliesslich in den französischen Alpen oberhalb von Genf nieder, im Bergbauerndorf Quincy.
Politik war das eine, ausserhalb von Kritiker- und Literaturzirkeln wurde Berger aber hauptsächlich durch eine blaue Wand bekannt, vor der er uns Einsicht versprach: «Ways of Seeing», eine vierteilige BBC-Serie, in der Berger frei nach Walter Benjamin das Sehen im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit besprach. Hier nahm Berger vieles von dem vorweg, was heute brandaktuell ist: omnipräsente Bilderfluten, Fragen nach Original und Fälschung, nach Authentizität und Wahrhaftigkeit.
Augenlicht für die Zuschauer
Wir lernten, dass für Giacometti sehen wie beten war, dass Caravaggio frühste Formen von Gendering anwendete und dass Holbein mehr fabrizierte als malte. «Ich mache euch zu Komplizen», sagte Berger einmal, seine Freunde trafen es noch besser: John leiht uns seine Augen.
So schien es wie ein zynischer Scherz des Lebens, dass Berger in seinen letzten Jahren an grauem Star litt und immer weniger sah. In seinem Studio in Paris gab er sich präzisen Naturbeobachtungen hin, schrieb bis ins hohe Alter Essays und Geschichten und führte Regie. 2016 erschien der Dokumentarfilm «John Berger or The Art of Looking»:
Einen wesentlich älteren John Berger sah man da, wie er in seinem grünen Studio in Paris über das Sehen philosophierte. Nicht mehr so knackig wie früher, dafür einfühlsamer, liebevoller. Kein Wunder: Er hatte seinen alten Freund – das Sehen – dank einer Operation wiedererlangt und fühlte sich seither «wie in einem Bild von Jan Vermeer»: alles mit goldenen Lichtschimmern versetzt.
Bis zu seinem Tod lieh der 90-Jährige seinen Komplizen immer wieder seine Augen. Berger machte das «looking» zum «seeing» – das blosse Schauen zum eindringlichen Sehen. Bei ihm wurden sie zu ein und derselben Sache. Er hielt sein Versprechen bis zum Tod.