Kurz vor dem Gipfeltreffen der EU-Chefs zur Zukunft der EU am Freitag hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Union die EU-Staaten kritisiert: «Die Zahl der Bereiche, in denen wir solidarisch zusammenarbeiten, ist zu klein.»
Es gebe zwar im Vergleich zu seiner Rede vor einem Jahr Fortschritte, doch lasse die Lage der EU weiter zu wünschen übrig. «Die EU ist derzeit nicht in Topform», stellte Juncker fest. Er sieht die EU gar in einer existenziellen Krise.
Allzu oft würde exklusiven Nationalinteressen die Vorfahrt eingeräumt, sagte er am Mittwoch in Strassburg. Juncker warnte davor, dass solches Verhalten Populisten in die Hand spiele. «Populismus löst keine Probleme – im Gegenteil: Populismus schafft Probleme.»
Erneut äusserte der EU-Kommissionspräsident zudem sein Bedauern über das Votum der Briten im Juni für einen Austritt aus der Union. Die EU wolle aber weiterhin ein freundschaftliches Verhältnis mit dem Königreich pflegen.
Mit Blick auf die anstehenden Austrittsverhandlungen mit Grossbritannien bekräftigte der EU-Kommissionspräsident, dass London «keinen Binnenmarkt à la carte» bekommen könne. Ungehinderten Zugang zum EU-Wirtschaftsraum werde es nur geben, wenn die britische Regierung die Freizügigkeit für EU-Bürger akzeptiere.
Trotz des Brexits sei «die EU in ihrem Bestand» aber nicht gefährdet. Juncker sieht diesen vielmehr als Symptom, denn die EU-Staaten sind tief zerstritten, wie etwa Wirtschaftsflaute, Flüchtlingskrise und Terror überwunden werden können.
Zwei Tage vor dem informellen Treffen der 27 EU-Staaten ohne Grossbritannien in der slowakischen Hauptstadt Bratislava verlangte Juncker daher eine «ehrliche Bestandsaufnahme» und auch mehr Anstrengungen gegen Arbeitslosigkeit und für ein sozialeres Europa.
Impulse für Wirtschaft
Seinerseits kündigte er in seiner Rede ein Bündel von Massnahmen an, mit deren Hilfe er die diversen Probleme in den kommenden Monaten angehen will.
So etwa werde die EU-Kommission den 2014 lancierten milliardenschweren Investitionsfonds (EFSI) zur Belebung der Wirtschaft verlängern und auf 500 Milliarden Euro aufstocken, kündigte Juncker an.
Damit könnten bis 2022 bis zu 630 Milliarden Euro für Investitionen aktiviert werden könnten. Der Investitionsfonds soll mit einem kleinen Anteil öffentlicher Gelder private Investitionen anstossen. Der auch Juncker-Plan genannte Fonds habe bereits im ersten Jahr zu Investitionen von rund 116 Milliarden Euro geführt, sagte der EU-Kommissionschef. Nun sollte der Plan bis 2020 verlängert werden.
Juncker hält an CETA fest
Auch zum umstrittenen Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) nahm der EU-Kommissionschef Stellung: «Nachverhandlungen für CETA kann es nicht geben». Es sei das beste und fortschrittlichste Freihandelsabkommen, das die EU je abgeschlossen habe.
Er sei «kein blinder fanatischer Freetrader», aber man dürfe die positiven Auswirkungen von Handelsabkommen auf die Beschäftigung nicht ausser Acht lassen. Eine Milliarde mehr Export im Handelsvolumen schaffe 14’000 zusätzliche Arbeitsplätze in Europa.
Auch von der fortschreitenden Digitalisierung soll die Wirtschaft profitieren. So will Juncker den Ausbau des superschnellen mobilen Internets 5G in ganz Europa bis 2025 vorantreiben. Davon verspricht er sich bis zu zwei Millionen zusätzliche Jobs. Ausserdem gab er als Ziel an, bis 2020 an öffentlichen Plätzen in Stadtzentren freies WLAN anzubieten.
Fluchtursachen bekämpfen
Neben der lahmenden Konjunktur stellen die vielen Flüchtlinge und Migranten die EU vor grosse Herausforderungen. Zur Bekämpfung von Fluchtursachen kündigte Juncker daher einen Fonds an, der Investitionen von mindestens 44 Milliarden Euro in Afrika und Nachbarländern auslösen soll. Würden sich die Mitgliedstaaten in derselben Höhe beteiligen, könnte das Investitionsvolumen Juncker zufolge auf 88 Milliarden Euro steigen.
Wegen der Flüchtlingskrise mahnte der EU-Kommissionschef zudem den raschen Aufbau eines gemeinsamen Grenz- und Küstenschutzes an. Konkret sollen bereits ab Oktober 200 zusätzliche Beamte aus Europa Bulgarien bei der Sicherung der Grenze zur Türkei helfen.
Die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini müsse zudem eine echte Aussenministerin werden, die EU dann etwa auch einen Sitz bei den Syrien-Verhandlungen erhalten. Der EU-Kommissionspräsident unterstützt zudem Pläne für eine engere Verteidigungszusammenarbeit mit einem gemeinsamen EU-Hauptquartier für militärische und zivile Missionen.
Reaktionen aus dem EU-Parlament
Abgeordnete der grossen Fraktionen – der konservativen Europäischen Volkspartei und der Sozialdemokraten – äusserten sich wie Juncker besorgt über den Zustand der Union und begrüssten seine Vorschläge grundsätzlich.
Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen meinte hingegen, Juncker habe eine Grabrede auf die EU gehalten. Auf Nachfrage bekräftigte Le Pen, dass sie in Frankreich ein Referendum zum Ausscheiden Frankreichs aus der EU organisieren werde.