Kadaver, 17. August 2002

Sizilien ist nah, manchmal scheint mir, die Insel müsse hinter dem nächsten Felsvorsprung auftauchen. 

Kalabresische Hotellandschaften am Meer. (Bild: Urs Buess)

Sizilien ist nah, manchmal scheint mir, die Insel müsse hinter dem nächsten Felsvorsprung auftauchen.

Was ist eine Million? Ich weiss es nicht und darum kann ich sagen: Eine Million Autos sind heute an mir vorbeigefahren. Von Praia a Mare bis Marina di Nocera Ternese. Sind etwas mehr als hundert Kilometer, bin geradelt wie verrückt, alles der Küste entlang, mal bergauf, dann bergab, das Meer glänzte, glitzerte, rechterhand die hohen Berge, manchmal durch beängstigende Tunnels, habe Kilometer abgestrampelt, Reggio zu – ein Stalldrang hat mich plötzlich ergriffen.

Habe sehr gut, traumlos und ohne Unterbruch geschlafen in dieser Ecke des Zeltplatzes, am Morgen einen Cappuccino getrunken, noch einen, mein Zeugs gepackt und bin – wie gesagt – an Millionen von Italiener-Autos, die irgend einem Strand zutuckerten, vorbeigefahren, durch Ortschaften, die in den letzten zwanzig und dreissig Jahren am Strand aus dem Boden geschossen sind, um all diesen sonnenhungrigen, vergnügungssuchenden  Menschen aus dem Land des Stiefels ein paar Tage Illusionen zu ermöglichen. Nichts tun, rumliegen, Pasta, Pizza, Gelati essen, Plastikmatratzen und Gummitierchen aufblasen, dem langweiligen Alltag entrinnen, ohne Höhepunkt – im Sommer zweitausend waren wir am Meer, wie auch im Sommer zweitausendundeins, neunzehnhundertneunundneunzig und all die anderen Jahre auch. Jedes Clichee über Italien und Italiener, von den schwatzenden, lärmenden, jeden Meter fahrenden, verfressenen, sich an den Strand drängenden und dort Liegestühle besetzenden, einen Meter neben dem anderen liegenden, nach der Geburt des ersten Kindes Fett ansetzenden (Mann und Frau), sich langweilenden Italieners findet hier millionenfache Bestätigung.

Familienidyllen

Ich fühlte mich sehr unwohl auf dem Zeltplatz. Als Alleinstehender sowieso. Mit einer Frau und einem nörgelnden Kind hätte man der Norm entsprochen, auch wenn man genau so wenig gesagt und erfahren hätte wie ich als Alleinstehender. Diese tristen Familienidyllen. Manchmal im Bauch der Frau schon das zweite Kind.

Was interessiert diese Leute überhaupt ausser: einen anderen übers Ohr hauen? Reich wird man damit kaum, aber man war schlauer. Der eine Aufseher auf dem Zeltplatz hat mich bis zum Wegfahren beobachtet und geschaut, dass ich nichts Unrechtes tue. Ich war ihm nicht geheuer.

Und dann an den Autos vorbei, manchmal sie an mir, oft aber ich an ihnen, war schneller in diesem Stau, schaute in diese Autos hinein, wo einer fahren musste und der Rest sich langweilte.

Hotels in der Ödnis

Die Berge sind zurückversetzt, lassen eine rechte Fläche flachen Strandes zum Meer hin offen. Über Jahrhunderte, Jahrtausende war dies unbedeutendes Land, die Menschen haben ihre Häuser und Dörfer im Schutz der Hügel gebaut, gingen ans Meer, um zu fischen, lebten aber in gebührendem Abstand zum Wasser. Nun wollen sich all die Millionen aus den Städten wenigstens einmal im Jahr ein Leben in Saus und Braus am Strand leisten, und weil die das so wollen, kann man ihnen auch Geld aus dem Sack ziehen. Man baut billige Hotels, Residenzen, Pensionen, Appartements-Häuser ans Meer und zwar dort, wo wegen der Öde der Landschaft seit Jahrhunderten noch kein vernünftig denkender Mensch auf die Idee gekommen ist, ein Haus zu bauen.

Sie sehen trostlos aus, diese kilometerlangen Strände mit den schnell aufgerichteten Gebäuden, die zerfallen, noch ehe sie fertig erstellt sind – und sind sie es, beschleunigt sich der Zerfall, mit dem Personal, das für ein paar Tage in schwarze Hosen und weisse Hemden gesteckt wird, den Gästen das Essen servieren soll, am Verdienst zwar interessiert, mehr noch aber abhängig ist vom Lärm des immer laufenden Berlusconi-TV´s, der trotz Protesten der Gäste rumoren muss. Alles, alles ist voll in diesen Ferragosto-Tagen, aber wer amortisiert diese Häuser vorher, nachher? Grau, trist, trostlos.

Millionen von Autos fuhren an mir vorbei, ich hab den ganzen Tag lang nur zwei Ausländer gesehen.

Tote Tiere

Alle Kilometer ein totes Tier. Katzen, Ratten, Vögel natürlich, ein Wiesel, wenn es die denn hier gibt, einmal ein Fuchs schien mir, auch kleine Hunde – man kann’s nicht so richtig erkennen, wenn der Kadaver schon einige Dutzend Male, vielleicht hundert Male überkarrt worden ist. Alle Kilometer? So dachte ich mal und glaubte, mich wieder der Übertreibung überführt zu haben. Und begann eine Weile lang zu zählen. Nicht alle Kilometer – nein, häufiger: Katzen, Ratten, Mäuse, Vögel, Igel und eben vielleicht noch Füchse und Wiesel. Und anderes. Es stinkt. Dauernd dieser Gestank verwesender Tiere in der Nase. Dauernd und mit der Zeit scheint alles nach Verwesung zu stinken.

Und dann noch eine kleine Szene: Eine Familie im Auto, alle Fenster offen, das Auto im Stau. Wahrscheinlich ist es heiss drinnen, die Frau am Steuer, der Mann daneben, die Kinder hinten. Es geht nicht vorwärts, die Frau kann nichts dafür, der Mann ist wütend. Er packt allen Unrat, den er im Wagen finden kann und wirft ihn zum Fenster hinaus in den Strassenrand. Irgendwer muss ja schuld sein an diesem Elend.

(Marina di Nocera Ternese , 17. August 2002)

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