Kaliningrad: Schlendern durch die verzaubernde Vergangenheit einer russischen Exklave

Hinkommen ist nicht ganz einfach, aber dafür ist Kaliningrad als russische Exklave auch aussergewöhnlich. Gerade im Spätherbst enfaltet es seine Schöneheit und zeigt seine verwunschenen Seiten. Und auch die Königsberger Vergangenheit grüsst im Alltag.

Die Eisbahn im Kalinin-Park ist von November an die große Attraktion. Im Hintergrund die Luisenkirche. Amalien eine Stadtteil im alten Königsberg, heute Kaliningrad. (Bild: Sarah Portner , n-ost)

Hinkommen ist nicht ganz einfach, aber dafür ist Kaliningrad als russische Exklave auch aussergewöhnlich. Gerade im Spätherbst enfaltet es seine Schöneheit und zeigt seine verwunschenen Seiten. Und auch die Königsberger Vergangenheit grüsst im Alltag.

Im Spätherbst lässt sich die alte Amalienau besonders gut erkunden. Hier und da halten sich die Blätter noch an den Zweigen fest und rascheln sie im Wind. Anderswo sind sie längst abgefallen und geben die nackten Bäume den Blick frei auf Gärten und Häuser. Die Fassaden leuchten in warmen Farben: Gelb und Rostrot, Ocker und Walnussbraun. Vor kleinen Häuschen blühen Astern und Chrysanthemen.

Hier im Westen von Kaliningrad lässt sich erahnen, wie es gewesen sein könnte, in Königsberg. Und wie das Viertel heute lebt, davon erhält man auch einen Eindruck. Trotzdem verschlägt es nicht viele Touristen hierher. Ich wohne gerade hier und zeige Gästen gerne die Gegend. Neulich habe ich sogar ein Ehepaar an der Bushaltestelle aufgegabelt und herumgeführt. Zu entdecken gibt es vieles, man braucht nur einen Blick für Details. (Wer sehr genau hinschaut, könnte sogar einen Bus der BVB entdecken.) Und einen Stadtplan, denn mancher Strassenverlauf ist eigenwillig.



Eine Villa am Prospekt Pobedy. Entlang der alten Alleen sind besonders viele Prachtbauten erhalten. Amalien eine Stadtteil im alten Königsberg, heute Kaliningrad.

Im Herbst geben die Bäume den Blick frei auf Häuser und Gärten. Amalien ein Stadtteil im alten Königsberg, heute Kaliningrad. (Bild: Sarah Portner , n-ost)

Fast wie im Berliner Villenviertel

Startpunkt für einen Streifzug ist die Luisenkirche am Kalinin-Park. Dort gabeln sich Prospekt Mira und Prospekt Pobedy und begrenzen in etwa den Stadtteil, der einst Amalienau hiess. Wer dort in eine Seitenstrasse einbiegt und die Augen ein bisschen zusammenkneift, glaubt sich für einen Moment in einem Berliner Villenviertel zu befinden. Macht man die Augen wieder auf, ist es anders. Viele Fassaden muten an wie ein Flickenteppich, an den Türen blättert die Farbe, Zäune und Briefkästen sind verrostet. Und doch finden sich hier und da bezaubernde Gartentore, schmiedeeiserne Balkone und Stuckwerk über den Fenstern. Als hätten sich die Häuser ihre Schönheit in einem Dornröschenschlaf bewahrt.

Explizite Hinweise auf die ostpreussische Vergangenheit liefern Gully-Deckel und gelegentlich sogar einzelne Ziegelsteine. «Union-Giesserei» steht auf dem Gitter eines Strassenablaufs, in den Backstein einer Gartenmauer ist der Name «Zoegershof» geprägt. Auch die roten Hydranten sind schon Zeugen des Strassenlebens in Königsberg gewesen.

Wieder Einzug gehalten hat der Geist längst vergangener Zeiten in einer Wohnung in der Pugatschev-Strasse. «Hagedorn’sches Stift» ist über dem Eingang von Haus Nummer 12 gerade noch zu entziffern. Ein Indiz dafür, dass vor hundert Jahren wohlhabende Bürger das Viertel für ihren Alterssitz wählten. Im Erdgeschoss haben ein paar geschichtsinteressierte Kaliningrader das «Alte Haus» eingerichtet.

Natalja Bytschenko und ihre Freunde haben das Alte Haus als Museum eingerichtet. Amalien eine Stadtteil im alten Königsberg, heute Kaliningrad.

Gastgeberin Natalja Bytschenko. (Bild: Sarah Portner , n-ost)

Durch den Korridor, wo Pelzmäntel an der Garderobe hängen, geht es hinein in die gute Stube. Dort serviert Natalja Bytschenko Tee und erzählt. Den Krieg überstand das Haus grösstenteils unbeschadet. Erst zogen Offiziere ein. Später wurden die Wohnungen in Kommunalkas umgewandelt. Immer liessen die Bewohner Wände, Böden, Türen und Fenster im Grossen und Ganzen so, wie sie waren. Sie hatten nicht die Mittel und vielleicht auch nicht das Bedürfnis, Kunststofffenster einbauen und Laminat verlegen zu lassen.

Mit Theater hat man Kirchen gerettet

Auf nochmal eine andere Art und Weise grüsst Königsberg am Eingang des Kalinin-Parks, ehemals Luisenwahl: Als lebensgrosse Figuren auf den Rollladen eines Kiosks gemalt, sitzen an einem Tisch zwei feine Herren und eine Dame mit Hut beim Kaffee. Wer um die Ecke schaut, sieht, dass die Geschichte noch weitergeht und ein Lausbub dem einen Herrn das Portemonnaie stibitzt.

Den klassischen Vergnügungen eines Sonntagnachmittags lässt sich in dem Park nach wie vor frönen: In der Luisenkirche zeigt heute ein Puppentheater sein Programm. Es heisst, mit diesem Nutzungsvorschlag hat man zu Sowjetzeiten die Stadtverwaltung ausgetrickst und den Sakralbau vor dem Abriss bewahrt.

Hinter der Kirche schliesst ein Vergnügungspark an. Grösste Attraktion in diesen Wochen ist die Eisbahn. Die Pirouetten, die die Mädchen dort vorführen, lassen auf hartes Training schliessen. Ein Stück abseits, bei den Blumenbeeten, treffen sich die älteren Herrschaften.

Auf vier, fünf Bänken sitzen sich jeweils zwei Männer am Schachbrett gegenüber, gebannt verfolgen ihre Fans die Partie. Nebenan hat sich ein Damengrüppchen um einen Opa mit Akkordeon versammelt. Sie singen Liebeslieder, drei Frauen haben sich eingehakt und schunkeln: «Ich werde Dich nicht küssen.» Solange die Sonne wärmt, ist so ein Sonntag in Amalienau noch lange nicht vorbei.

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