Die NHL ist finanziell erfolgreich und expandiert immer mehr in den Süden. Traditionalisten, vor allem in Kanada, beklagen aber die amerikanische Dominanz und den Ausverkauf der Werte.
Gary Bettman kennt in Kanada jedes Kind. Manch eines wirft wohl im Keller mit Dart-Pfeilen nach seinem Porträt. Tritt der mächtigste Mann des Welt-Eishockeys in Kanada – oder auch in einer der traditionellen US-Hockeystädte wie Boston oder Detroit – auf, wird er gnadenlos ausgepfiffen. Der 64-jährige Jurist aus New York steht der NHL seit mehr als 24 Jahren vor und ist dabei äusserst erfolgreich. Er ist ein glänzender Verkäufer. Im positiven Sinn, in dem er die Liga von 24 auf 31 Teams ausgebaut und die Einnahmen von 400 Millionen Dollar bei seinem Amtsantritt fast verzehnfacht hat. Genau mit diesem Auftrag setzten die Klubbesitzer 1993 erstmals einen Commissioner mit grosser Machtfülle ein: um mit dem Sport zu expandieren und mehr Geld zu verdienen.
Für viele hat Bettman aber auch die Seele des Sports verkauft, aus den traditionellen Hockey-Landen in die finanzkräftigen Märkte im Süden der USA. Vor allem in Kanada, wo Eishockey fast einer Religion gleichkommt, ist dieses Gefühl sehr stark. In einem Leitartikel zum Start der Playoffs vor ein paar Wochen brachte die in Toronto erscheinende «Globe and Mail», Kanadas meistverkaufte und renommierteste Tageszeitung, die Meinung pointiert auf den Punkt: «Kanadas Hockey ist erfolgreich trotz, nicht dank, der NHL. Keine andere Organisation weltweit arbeitet so hart daran, seine Basis zu ignorieren, um Leute zu belohnen, die wenig bis gar kein Interesse an ihrem Sport gezeigt haben.»
Tritt in die Eier von Kanada
Als Bettman sein Amt 1993 antrat, spielten 8 der 24 Teams in Kanada. Nächste Saison sind es 7 von 31. In Québec und Hartford im Nordosten der USA gibt es kein NHL-Hockey mehr, dafür in San Jose, Anaheim, Sunrise (Grossraum Miami), Dallas, Nashville, Phoenix, North Carolina, Columbus und bald Las Vegas, ausser Columbus alles Städte im sogenannten Sonnengürtel, wo Schnee und Eis ausserhalb der Stadien weitgehend Fremdwörter sind. Zufall oder nicht: 1993 war auch das letzte Jahr, in dem mit den Montreal Canadiens ein kanadisches Team den Stanley Cup gewann.
Einen Tiefpunkt erlebten die Kanadier im vergangenen Jahr, als sie in den Playoffs allesamt nur Zuschauer waren. In dieser Saison sieht es besser aus. Gleich fünf Teams erreichten die Playoffs, mit den Ottawa Senators kämpft immerhin eines um den Einzug in den Final (1:1 Siege gegen Pittsburgh). Unzufrieden sind die Kanadier dennoch, nicht zuletzt wegen der Weigerung der NHL, für die Olympischen Spiele im Februar 2018 die Meisterschaft zu unterbrechen. Während dieser Entscheid in den USA wie erwartet keine hohen Wellen geworfen hat, bezeichnet ihn der «Globe and Mail» als «Tritt in die Eier für Kanada».
Bettman, der nie Eishockey gespielt hat, geht seinen Weg ohne Rücksicht auf Verluste. Er nimmt regelmässig auch die Konfrontation mit der Spielergewerkschaft in Kauf. Bereits dreimal wurde in seiner Zeit an der Spitze gestreikt, einmal fiel eine Saison sogar komplett aus. 2022, wenn der aktuelle Gesamtarbeitsvertrag ausläuft, ist der nächste Disput vorprogrammiert. Die Spieler sind wegen des Olympia-Verzichts, den sie scharf kritisieren, sowieso schon gereizt.
Ausgerechnet Gretzky
Die Weichen für die Expansion in den Süden, wo viele gut situierte Rentner und Manager leben, wurden allerdings lange vor der Ära Bettman gestellt. Eishockey ist zwar nur die Nummer 4 der grossen nordamerikanischen Sportligen hinter Football, Baseball und Basketball, doch die Eishockeyfans gelten als überdurchschnittlich zahlungskräftig und sind deshalb ein attraktives Zielpublikum für Werbung. Ausgerechnet dank der kanadischen Ikone Wayne Gretzky nahm diese Entwicklung richtig Fahrt auf.
1967 waren die Los Angeles Kings das erste NHL-Team im Süden geworden. Erst mit dem Wechsel von Gretzky 1988 in die Filmmetropole, kurz nach seiner Hochzeit mit der Schauspielerin Janet Jones, wurde Eishockey in Kalifornien aber sexy. Basketballstar Magic Johnson kaufte Saisonkarten, und die Zahl der lizenzierten Hockeyspieler in Kalifornien stieg innert fünf Jahren von 4800 auf 15’500. Und Gretzky brachte den Kings nie gesehenen Erfolg, auch wenn sie ihren ersten Stanley-Cup-Final 1993 gegen Montreal verloren. Erst sechs Jahre später gewann mit den Dallas Stars erstmals ein Südstaaten-Team die wichtigste Klubtrophäe im Eishockey. Der Hype um Gretzky in Los Angeles hatte aber den Ligachefs gezeigt, dass Eishockey unter Palmen funktionieren kann.
In einer Liste mit verschiedenen «Was wenn?»-Fragen spekuliert «Sports Illustrated»: «Wenn Wayne Gretzky nicht nach Los Angeles geskatet wäre, wäre Hockey noch immer nur der grossartige Sport des Nordens.» Gary Bettman ist froh, dass es nicht so gekommen ist. An Ottawa dürfte er aber keine Freude haben. Er träumt davon, den NBA-Finals in den grossen Städten wie New York, Chicago oder Los Angeles Konkurrenz zu machen. Ein Final zwischen Nashville und Ottawa, zwei Städten mit weniger als einer Million Einwohnern, wäre nicht in seinem Sinn.
Die Kanadier würden sich aber sicher freuen. Der «Globe and Mail» schliesst seinen Leitartikel mit der Feststellung: «Wenn die NHL morgen verschwinden würde, wäre das nicht das Ende des kanadischen Hockeys. Aber ohne Kanada wäre die NHL am Ende.» Falsch ist das sicher nicht. Noch immer stammen rund 50 Prozent der Spieler in der NHL aus Kanada. Das Geld wird aber südlich der Grenze verdient.