Die Disco im Basler Quartierzentrum Bachletten ist eine besondere. Hier tanzen sich Leute die Seele aus dem Leib, die in andere Basler Clubs nicht reinkommen.
DJ Sunflower legt nochmals nach, und die Nacht schäumt auf. Gölä, den sie immer hören wollen, bellt: «Du hesch äs Lache, wi nis no nie ha gseh, wo du bisch, dert gits keni Träne meh.»
Die Leute singen mit, Andreas Fleury, wie Sunflower in seinem bürgerlichen Leben heisst, dreht die Musik ab, lacht dem Aufschrei von der Tanzfläche entgegen, sagt was ins Mikrofon; er spielt mit dem Publikum, aber nur das eine Mal, weil er nicht will, dass es zur Masche wird. Wie auch seine Musik immer eine andere sein soll. Im Basler Quartierzentrum Bachletten kann er auflegen, was er will. Das Publikum ist grosszügig, nur Gölä und Gotthard müssen einmal sein, und tanzbar alle Nummern, aber das versteht sich von selbst.
Das Publikum ist grosszügig, nur Gölä und Gotthard müssen einmal sein.
Dafür ist Patrick Schwendimann schliesslich gekommen. Er sitzt in seinem Elektro-Rollstuhl, im Becherhalter eine Flasche Coca-Cola, auf dem T-Shirt das Gesicht von Phil Collins. Schwendimann ist ein grosser Collins-Fan, er fragt, ob die TagesWoche an dessen letztem Konzert war. Waren wir nicht. Gibts doch nicht, empört er sich belustigt: «Was seid ihr denn für ein Käseblatt?!»
Collins läuft an diesem Abend in der Disco für Behinderte und Nichtbehinderte im Bachletten auch einmal. Sunflower hatte wieder mal den dummen Einfall, Lady Gaga aufzulegen. Da musste Schwendimann seinen Rollstuhl ans DJ-Pult lenken und Frau Gaga durch Herrn Collins neutralisieren lassen. «Total gaga, dieser Sunflower manchmal», sagt Schwendimann.
Ein Riesenspass für alle
Aber es ist nur ein Spass, wie fast alles an dieser in jeder Hinsicht überschwänglichen Party. 120 Besucher sind gekommen, das Bachletten bebt. Ein junges Mädchen – sie heisst Katharina und sieht viel jünger aus, als sie wirklich ist, wie sich später im Gespräch zeigt –, Katharina also wirft sich auf die Tanzfläche und macht so ziemlich Breakdance.
Daneben jagen zwei Gäste auf den Knien und heftig kichernd den Spiralen, die ein rotes Laserlicht auf den Boden zeichnet, nach. In der Ecke ringelt sich ein Pärchen, sie stösst ihn in die dicke Discoluft, hält ihn am Arm zurück, zieht ihn ganz nah, sie küssen sich, und was für Küsse das sind. «Sit i di ha gseh, gits für mi keni Träne meh», kommentiert Gölä, wie recht er doch hat in diesem Moment.
Schwendimann braucht eine Pause. Er lässt sich von Zofia Stepan, seiner Begleiterin an diesem Abend, zur Bar schieben. Zofia hat früher als Freiwillige für das Jugendrotkreuz gearbeitet, dabei hat sie Patrick kennengelernt. Seither sind sie befreundet, und er nimmt sie in die Disco mit, die alle paar Monate stattfindet. Die Termine haben sich die meisten lange im Voraus in der Agenda eingetragen.
In die meisten Basler Clubs werden Behinderte nicht reingelassen, aus Angst, andere Gäste könnten sich gestört fühlen.
Das war nicht immer so, sagt Patrick Schwendimann. Seit über zehn Jahren, seit der Geburt der Idee, Behinderte und Nichtbehinderte zusammen tanzen zu lassen, kommt er stets. Die ersten paar Mal waren nur er da und zwei andere. «Da musste ich an die Presse, ich hab Interviews gegeben, um die Disco populär zu machen», erzählt er.
Seither nimmt der Zuspruch kontinuierlich zu. Die Betreiber, das Rote Kreuz und die Vereinigung Cerebral, die Menschen mit zerebralen Bewegungsstörungen und deren Angehörige vertritt, sind äusserst zufrieden. Nur der Ur-Gedanke hat sich nicht verwirklicht: Die allermeisten Nichtbehinderten sind Angehörige und Begleiter. Die Vermischung der zwei wie Öl und Wasser voneinander getrennten Welten findet kaum statt.
Immerhin können sich die Besucher ungehemmt und unbeobachtet die Seele freitanzen. In die meisten Basler Clubs werden sie nicht reingelassen, aus Angst, die anderen Gäste könnten sich gestört fühlen.
Patrick Schwendimann ist noch aus einem anderen Grund hier. Er will Leute kennenlernen, eine Frau bestenfalls. Freundinnen zum Freundsein zu finden, das fällt ihm leicht, dabei bleibt es dann aber auch. «Für mich als Rollstuhlfahrer ist das mit den Frauen so, als ob du in ein Auto einsteigst und nicht Gas geben darfst.»
Patrick ist noch aus einem anderen Grund hier. Er will Leute kennenlernen, eine Frau bestenfalls.
Er sagt das und prustet los, Schwendimann ist ein aufgestellter Typ. Er wohnt in Bottmingen im unteren Stock des Elternhauses. Er verbringt viel Zeit am Computer, richtig arbeiten kann er daran aber nicht. Das Schreiben einer E-Mail dauert bei ihm oft einen ganzen Tag. «Die Motorik kommt mir in die Quere, das siehst du ja.»
Zofia Stepan, eine schöne Frau mit starken Augenbrauen, sagt, sie begleite ihn nicht, um ihm einen Gefallen zu tun. Sie würde sich immer wahnsinnig amüsieren an seiner Seite. Zum Beispiel, wenn er im Gespräch drauf Wert legt, dass er zwar 30 Jahre alt ist, aber sich wie 26 fühlt: «Schreib das! Ist doch eine geile Formulierung.»
Als Schwendimann von seinen Eltern abgeholt wird, sind nicht mehr viele da. Am Rande der Tanzfläche sind Tische aufgestellt. Einige der Begleiter schauen dem Treiben von dort aus zu. Ein Rollstuhlfahrer, aus Ex-Jugoslawien stammend, sitzt da mit einer Frau, seiner Frau vielleicht. Um sie herum ist es laut, aber zwischen ihnen leise. Sie reden nicht, müde Gesichter, es ist aber auch schon bald Mitternacht, und die Disco fällt in jene Melancholie, die sich aller Clubs kurz vor Betriebsschluss bemächtigt.
Platz für grosse Kreise
Die letzten Besucher verabschieden sich, nehmen eines der Taxis, die draussen in der Kolonne warten, oder lassen sich von den Eltern abholen.
Die Tanzfläche ist leer, darauf hat der Rollstullfahrer in der Ecke gewartet. Sunflower spielt jetzt treibende, dröhnende und drängende Musik, er lässt die Nacht nicht kampflos in den verdienten Schlaf gleiten. Während die Frau in die reflektierende Scheibe und ganz weit weg blickt, hämmert er mit dem Kopf auf und ab, kreist in vollem Tempo über die Tanzfläche. Und was für Kreise das sind!
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 11.10.13