Wie erkläre ich es meinen Kindern? Unser Autor Roland Suter nähert sich am Küchentisch dem grossen Spiel des Lebens und seinen Abgründen.
«Papi, geht jetzt deswegen die Welt unter?» Als ich diese Frage aus dem Mund meines Sohnes hörte, musste ich leer schlucken. Und als meine Tochter nachdoppelte und ergänzte: «Und ist nun alles hoffnungslos?», habe ich nur noch hilflos nach Fassung und um Worte gerungen. Was für kolossale und bedeutungsschwangere Fragen! Wie sollte ich darauf eine pädagogisch richtige und erzieherisch wertvolle Antwort parat haben?
Als empathisch und fürsorglich handelnder Elternteil versuchte ich, ob dieser schwierigen Situation zunächst einmal abzulenken: «Hat noch jemand Lust auf ein Dessert?» Meine Kinder durchschauten meinen plumpen Ablenkungsversuch natürlich sofort und schüttelten nur stumm und tadelnd ihre Köpfe.
Ich versuchte es mit Strategie Nummer 2: Zeit schinden. «Wie war gleich noch mal die Frage?» Vier Kinderaugen durchbohrten mich vorwurfsvoll. Da hilft dann nur noch der letzte Trumpf: Gegenfrage stellen. Diese muss möglichst locker und leger daher kommen, um die eigene Angst und Verzweiflung nicht zu zeigen. «Ha, wie kommt ihr denn darauf, dass die Welt untergehen soll, haha, und das schon bald, hoffnungslos, hahaha!?!»
Mein männlicher Nachkomme stieg leider nicht auf mein Auflockerungsbestreben ein, sondern antwortet nur: «Es ist wegen …» Um ihm die erdrückende Last von den kleinen Schultern zu nehmen, vollendete ich umgehend seinen Satz: «… wegen der vielen schrecklichen Meldungen, die wir in den Zeitungen, im Internet oder im Fernsehen täglich finden, ich weiss. Ja, mein Liebling, überall werden uns die Anzeichen für den bevorstehenden Untergang vor Augen geführt. Aber weisst du, das ist nichts Neues, das sind alles altbekannte Fakten und darum halb so schlimm!»
Kinder, wichtig ist, die persönliche Betroffenheits-Halbwertszeit nach einer Schreckensnachricht auf erträgliche 48 Stunden zurückzuschrauben
Mein weiblicher Nachwuchs machte sogleich einen neuen Versuch: «Du hast natürlich recht Papi, aber wir haben …» Sogleich musste ich die arme Seele der Kleinen entlasten und fuhr deshalb fort: «Ja, mein Kind, wir haben dunkle Wolken am fernen Horizont, frostigen Umgang im nahen Umfeld und apokalyptische Realitäten, welche die Weltuntergangsstimmung noch zusätzlich befeuern: Flüchtlingsströme und Terrorwellen, Naturkatastrophen und Umweltdesaster, Klumpen- und Restrisiko, Wachstumsgrenzen, Grenzzäune und Zaunkönige. Aber deswegen muss man sich nicht allzu grosse Sorgen machen. Wichtig ist, die persönliche Betroffenheits-Halbwertszeit nach einer Schreckensnachricht auf erträgliche 48 Stunden zurückzuschrauben und nicht in einen depressiven Dauerzustand zu verfallen, denn es keimen doch immer wieder Momente der Hoffnung auf, dass der Weltuntergang noch verhindert werden kann!»
«Klar», meinte mein Sohn sichtlich beeindruckt, «aber es ist wegen der Sachbe…» «Du meinst wegen der Sachverhalte», korrigierte ich. «Da gibt es aber Lösungen: Denk nur an den Friedensgipfel! Und die Klimakonferenzen! An Schutzklauseln und Zukunftsstrategien. Oder auch an banale Dinge des Alltags, die allesamt wundervolle Strohhalme der Zuversicht sind: der kleine Grenzverkehr, die grosse Kerninnerstadtzone, ein falscher Young Boy aus Bern, zwei echte SVP-Bundesräte in Bern, das heilige Jahr, unheilige Allianzen …»
«Schon, Papi», warf meine Tochter mitten in mein phänomenales Plädoyer ein, «aber ich meine die Drohungen!» Ich erschrak; meine Zuckermaus sprach tatsächlich von so etwas Schrecklichem wie Drohungen! Nun war ich wirklich irritiert.
Jahrzehntelang hatte ich versucht, meinem eigen Fleisch und Blut ein guter und optimistischer Vater zu sein. Ich hatte meiner leiblichen Brut immer Freiheiten gewährt, aber auch Leitlinien verordnet, hatte Vertrauen eingeflösst und Respekt eingefordert, hatte Perspektiven aufgezeichnet, aber auch eine Portion Zurückhaltung und eine gesunde Skepsis gepredigt.
Kinder, ihr habt recht, und ich will nichts beschönigen; die Welt ist beschissen!
Doch genau diese so gut gemeinten Bemühungen waren nun offensichtlich kläglich gescheitert, denn ich hatte versagt, wie der Blick in die abgelöschten Augen meiner Gegenüber deutlich zeigte: Meine Kinder fürchten sich vor der hoffnungslosen Zukunft. Doch statt nun zu resignieren und mit in die allgemeine Untergangsstimmung zu versinken, erwachte in mir das Kämpferherz: Ich hatte noch eine Chance und war fest entschlossen, sie zu nutzen.
«Liebe Kinder, ihr habt recht, und ich will nichts beschönigen; die Welt ist beschissen! Wo wir auch hinschauen, überall nur Missgunst, Eigennutz, Schwindel und Bosheit. In der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft. Das ist höchst beschämend! Aber, es gibt einen Bereich in unserem Leben, der uns hoffnungsfroh in die Zukunft blicken lässt, denn er ist immer bereichernd, positiv und euphorisierend.»
Es schien mir, als ob meine beiden Knirpse interessiert aufhorchten. Ich ergriff den Strohhalm und setzte zum finalen Überraschungsakt an: «Ich meine damit die heile Welt des Sports!» Für einen kurzen Moment sah ich das Erstaunen in den Gesichtern der Kleinen und entgegnete deshalb sogleich: «Ich sehe das Misstrauen in euren Augen, aber lasst mich ausreden. Der Sport ist doch eine Anhäufung von wundervollen Festen der Ausgelassenheit. Denkt nur an die zahlreichen opulenten und sinnlichen Früchte der Leibesertüchtigung und des Körperkults, welche uns demnächst erwarten. Nicht nur die obligaten Highlights wie Lauberhorn, Wimbledon oder FCB-Meisterfeier stehen bald auf dem Programm. Nein, als Zuckerguss warten im kommenden Jahr die Fussball-EM, die Olympischen Spiele und das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest.»
Ihr denkt, dass Korruption, Doping und Betrug im Sport an der Tagesordnung sind? Hauptsache man lässt sich bei den Verstössen nicht erwischen.
«Ja, aber wir haben …», erwiderte meine Tochter. «Ihr habt den Eindruck, dass es gerade im Sport eine Fülle von Geld und Macht, Einfluss und Eitelkeiten gibt?» «Ja», bestätigte mein Sohn, «aber wir …»
«Ihr denkt, dass Korruption, Doping und Betrug im Sport an der Tagesordnung sind?» «Ja!», riefen beide im Chor, «aber wir …»
«Nein, meine Lieblinge», fuhr ich dazwischen, «ihr seht das falsch! Im Gegensatz zum wahren Leben ist der Sport nur ein Spiel! Und darum ist er nichts wirklich Ernstes, geschweige denn Bedrohliches. Wie in jedem Spiel gibt es im Sport Regeln, aber wer ein Spiel wirklich beherrschen und vor allem gewinnen will, weiss, dass, wenn man geschickt ist, man die Bestimmungen auch umgehen kann und meistens auch muss. Hauptsache, man lässt sich bei den Verstössen nicht erwischen. Und wenn doch, dann sollte man eben gute Ausreden haben, wie ‹En Weltküp cha me nid choufe›, oder eine Amnesie, wie ‹Daran kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern›, oder eine erstklassige Begründung, wie ‹Dieses Mittel war bloss gegen meinen Hodenkrebs›.»
Das Leuchten in den Augen meiner Kinder bewies mir, dass sie angebissen hatten. «Das heisst», fragte meine Tochter, «dass, wenn ich die Drohung an meine Schulfeindin als kleinen Regelverstoss bei einem Spiel deklariere, komme ich unbeschadet aus der Sache raus?»
«Welche Drohung?», stiess ich hervor, aber mein Sohn unterbrach mich umgehend und wollte wissen: «Und wenn ich die Sachbeschädigung im Garten der Nachbarn als unumgängliche Rasenpflege beim Penaltypunkt bezeichne, ist damit alles erledigt?» «Was für eine Sachbeschädigung?», versuchte ich noch einzuwerfen, doch meine Kinder umarmten mich bereits innig und vollführten mit mir einen Freudentanz.
«Die Welt geht deswegen nicht unter!», rief mein Sohn und meine Tochter ergänzte: «Und alles ist wieder so hoffnungsfroh!»
Bevor ich zu einer ordentlichen Standpauke ansetzen konnte, warf der Kleine ein: «Papi, jetzt weiss ich endlich auch, was ich werden möchte, wenn ich gross bin: Spitzensportler. Dann gewinne ich, dank leistungsfördernden Substanzen, massenweise Goldmedaillen und verdiene mir mit Werbeverträgen einen goldenen Arsch.» Und meine Tochter grölte freudig: «Und ich werde Funktionärin von Gottes Gnaden, setze mich mit Leib und Seele für das Wohl des Sports ein und lasse mich für jede Gefälligkeit bestechen!»
Nun stand ich endgültig im Offside und war unwiderruflich schachmatt. Ich muss mich wohl nochmals eingehend mit dem Thema «bevorstehender Weltuntergang» beschäftigen.
ist Autor, Kabarettist, Regisseur und leitet, zusammen mit seiner Partnerin Katharina Martens das «Theater im Teufelhof Basel». Er ist Vater von zwei Kindern, regelmässiger Gast in der Muttenzerkurve und widmet sich in seiner Freizeit vergeblich der Frage, wieso es ihm in seiner über 43-jährigen Fussballkarriere nie gelungen ist, in der 90. Minute das entscheidende Tor zu erzielen.