Ein Schulbeispiel. Wie wenig die Schule vom Leben lernt, und wie viel die Schule doch Leben lehrt.
Rok Biček ist Slowene. Er kennt die Mechanismen einer Gesellschaft, die ein Trauma hinter sich hat. Am Modell einer Schulklasse zeigt er die Aufarbeitung eines Traumas. Der Tod einer Schülerin lässt plötzlich alte Narben in der Schule aufbrechen.
Sabina ist traurig. Als Ihr neuer Lehrer ihr in einem Gespräch deutlich macht, dass sie endlich eine Entscheidung fällen muss, was sie will mit ihrem Leben, rennt sie in Tränen aufgelöst davon und sucht das Weite. Einen Tag später findet sie die Weite. Sie bringt sich um.
Der Lehrer Robert scheint davon unberührt. Er konzentriert sich ganz auf den Schulstoff: Thomas Mann. Mit absolut unempathischer Ruhe lässt er in den Tagen nach dem Freitod Parallelen entstehen, zu «Tonjo Krüger», zur Tatsache, dass Thomas Mann dem Begräbnis seines Sohnes Klaus fernblieb, als der sich umgebracht hatte. Er nimmt sich ganz die Devise von Schopenhauer zur Brust: Dass der Wille die stärkste Kraft der menschlichen Erkenntnis sei, und der Anfang der Freiheit.
Langsam wird er zum Klassenfeind
Doch für die Klassenkameraden von Sabina ist klar, wer an ihrem Freitod Schuld hat: Es ist der neue Lehrer. Er ist zu streng. Er ist strenger als das Leben. Er vertritt das System. Er ist ein Nazi. Die Klasse beginnt ihn zu mobben. Bald laufen die Dinge aus dem Ruder.
Doch wer sich selber ein wenig schuldig fühlt, greift gern nach Schuldzuweisungen: Die Schüler boykottieren den Lehrer. Sie sprechen gern über ihn als den Schuldigen, weil sie dann nicht über ihr Leben sprechen müssen: Dass Sabina zum Beispiel gemobbt wurde. Dass Sabina eine Vollwaise war, was nach einem bewaffneten Konflikt, in dem Ethnien sich auf engstem Raum bekriegen, auf mehr deutet als nur auf familiäre Schwierigkeiten. Dass Ihr Talent zur Musik an der Schule verkümmerte. Etc.
Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir
Scheinbar unbeirrt hält der Lehrer Robert an seinem Stoff fest: Er scheint es sich zu Aufgabe machen zu wollen, den Schülern das Leben anhand der Literatur verständlich zu machen. Oder die Literatur anhand des Lebens. Doch ausgerechnet damit gerät er in einen katastophalen «Double-Bind»: Was er sagt ist klug. Wie er es sagt, ist verheerend.
Dabei tut Robert nur das was, was Old-School-Schule eben tut: Menschen beibringen, wie sie ihr Leben auf morgen verschieben, indem sie jahrelang Dinge lernen, die sie erst nach Jahren werden brauchen können – wenn überhaupt.
Was Robert den Schülern für ihr Leben heute beibringen will, geht weit an ihnen vorbei: Ausgerechnet mit der Literatur von Thomas Mann will er seine Schüler erkenntnishungrig machen. Ausgerechnet seine Literatur soll Antworten geben. Oder zumindest die wichtigen Fragen stellen.
Robert wird gemobbt. Er bringt sich selber an der Rand der Katastrophe: Mit der versteinerten Ruhe einer Gefängnismauer im Gesicht, predigt er die Freiheit der Erkenntnis. Robert verstrickt sich immer tiefer in seinem Dilemma: Er will das Leben beliebt machen. Aber das Leben wendet sich gegen ihn.
Die Literatur als Trost und Halt
Wäre da nicht die Literatur – der Lehrer Robert müsste dem Beispiel Sabinas folgen: Doch er sucht nicht das Weite: Er bleibt in der Enge der Schule. Bis es zum Eklat kommt: Die ganze Klasse stellt sich gegen den Lehrer, und sitzt mit der Maske von Sabina im Klassenzimmer.
Doch im Gegensatz zu seiner Vorgängerin, die es wichtig fand, beliebt zu sein, findet Robert es immer noch wichtig, das Leben beliebt zu machen – wie es wirklich ist.
Ein Erstling der viel verspricht
Es ist Rok Biček erster Film. Er beherrscht die Kunst der Andeutung bereits in Vollendung: In wenigen Bildern lässt er das Beziehungsnetz einer Schulklasse entstehen. Mit grosser Präzision setzt er in eine filmische Form um, was er mit seinem filmischen Inhalt erzählt: Dieser knallharte Lehrer macht die Zuschauer so wütend, wie er die Klasse wütend macht. Dieser Film überlässt uns am Schluss unsere eigenen Schlüsse, wie es im film den Schülern überlassen wurde, Schlüsse zu ziehen.
Rok Bičeks setzt seine filmischen Mittel mit grösster Präzision ein: Die Musik nur dort, wo sie etwas erzählt. Das Bild nur ganz selten in emotionalem Wildwuchs. Er will nicht einlullen. Selbst am Schluss tut er das, was nur Kunst kann: er erklärt nichts. Wenn es für Schulklassen in diesem Herbst eine filmische Pflichtlektüre gibt: Hier ist sie.