Kleine Geschichte der Fussballtaktik (1 – das Offsideproblem)

Zur Europameisterschaft werfen wir den Blick zurück auf die Entwicklung des modernen Fussballs. In Teil 1 geht es um eine merkwürdige Offsideregel und eine grundlegende Entdeckung aus dem Norden Grossbritanniens. Natürlich, es gibt sie noch. Die TV-Experten von altem Schrot und Korn wie Ex-Halsbeisser Oliver Kahn, die uns ohne zu erröten erklären, dass die Iren […]

Der Forest FC im Jahr 1863. Später wurde der Londoner Club in Wanderers FC umbenannt und gewann von 1872 bis 1878 fünfmal den englischen Cup.

Zur Europameisterschaft werfen wir den Blick zurück auf die Entwicklung des modernen Fussballs. In Teil 1 geht es um eine merkwürdige Offsideregel und eine grundlegende Entdeckung aus dem Norden Grossbritanniens.

Natürlich, es gibt sie noch. Die TV-Experten von altem Schrot und Korn wie Ex-Halsbeisser Oliver Kahn, die uns ohne zu erröten erklären, dass die Iren einen «kampfbetonten Fussball» spielen. Also Dinge, die wir alle seit 1975 (September) circa 10’427-mal gehört haben. Davon abgesehen diskutieren heute aber schon Knirpse im Kindergartenalter fundiert über Fussballtaktiken.

Da scheint in der Zeit der Europameisterschaft ein kleiner Rückblick auf die Entwicklung des Fussballs gar nicht so fehl am Platze. Also scheue ich hier nicht davor zurück, meine liebsten Fussball-Blöcke vollzukribbeln, die mir die Credit Suisse jeweils bei Zusammenzügen des Nationalteams schenkt (siehe unten).

Es ist vielleicht etwas vermessen, von wirklicher Taktik zu sprechen, wenn man auf die Zeit zurückblickt, in der die ersten verbindlichen Fussballregeln niedergeschrieben wurden. 1863 war es, als die englische Football Association (FA) ihr Reglement verfasste. Das war der Moment, in dem sich die Wege von Fussball und Rugby endgültig trennten.

«Ich hole einen Haufen Franzosen, der euch nach einer Woche Training schlägt»

Das ging nicht ganz ohne Meinungsverschiedenheiten über die Bühne. Vor allem, dass es im Fussball nun plötzlich verboten sein sollte, den Gegner vors Schienbein zu treten («Hacking»), schmeckte einigen nicht. «Wenn man das Hacking abschafft», motzte ein F. W. Campbell aus Blackheath, «nimmt man dem Spiel sämtlichen Mut und Schneid.» Und er drohte, «einen Haufen Franzosen» über den Kanal zu holen: «Die werden euch nach einer Woche Training schlagen.»

Doch auch ohne Mr. Campbell, der dem Fussball tatsächlich den Rücken zukehrte, blieb Fussball ein roher Sport, in dem die Spieler den Ball einfach mit ihren Füssen so weit nach vorne trieben, bis sie gestoppt wurden. Es gab nicht bloss kein spanisches Tiki-Taka, es gab überhaupt kein Zusammenspiel.

Das hatte ganz massgeblich mit der ersten Offsideregel zu tun.Wie im Rugby war es nämlich verboten, einen Pass nach vorne zu spielen. Das hatte zur Folge, dass die sogenannten Dribbler als die grossen Könner der Sportart galten. Und auch die darf man sich kaum als eine etwas strenger gekleidete Messi-Variante vorstellen.

1-0-9 hiess das System der ersten Stunde. Ein Verteidiger gegen neun Angreifer, das klingt zunächst etwas unfair. Aber weil an einen geordneten Spielaufbau nicht zu denken war, endeten die Angriffszüge sowieso meist in einem wilden Knäuel. Deswegen fehlten auch Mittelfeldspieler.

Allerdings litt das Spiel derart unter dieser Offsideregel, dass sie bereits 1866 wieder geändert wurde. Nun waren Pässe nach vorne erlaubt. Allerdings mussten beim Abspiel nicht wie heute zwei Mitglieder der verteidigenden Mannschaft zwischen dem Angreifer, der den Pass erhielt und der Torauslinie stehen. Sondern drei.

Die Regeländerung führte einerseits dazu, dass so etwas wie ein Mittelfeld eingeführt wurde. In einem 1-2-7 holte der Londoner Wanderers FC zwischen 1872 und 1875 fünfmal den englischen Pokal.

Die wirkliche Revolution aber ereignete sich im Norden. Das sollte die englische Nationalmannschaft verblüfft 1872 bei ihrem ersten Spiel gegen die schottische Auswahl feststellen. Die Engländer galten als klare Favoriten, weil sie im Schnitt sechs Kilogramm schwerer als ihre Gegner waren. Was eigentlich alles darüber aussagt, woraus Fussball in England zu jener Zeit bestand: Aus einer Aneinanderreihung von Zweikämpfen Mann gegen Mann.

Die Schotten aber liessen sich gar nicht erst darauf ein, sich mit den körperlich überlegenen Engländern zu messen. Sie passten sich stattdessen den Ball zu! Den Gästen aus dem Süden schien das zunächst einfach eine List. Tatsächlich aber waren Pässe beim FC Queen’s Park, der zugleich das schottische Nationalteam war, von Beginn weg Teil des Spiels gewesen.

Die Partie endete 0:0. Bis auch die Engländer von den Vorteilen des Passspiels überzeugt waren, sollte es noch rund zehn Jahre dauern. Kaum aber war allen klar, wie wichtig Pässe für den Erfolg waren, wurde ein weiterer Angreifer zurück ins Mittelfeld gezogen. Von 1880 an war das 2-3-5 die massgebende Aufstellung. Ändern sollte sich das erst 1925 mit einer erneuten Anpassung der Abseitsregel. Mehr dazu in Teil II dieser kleinen Serie.

Quellen: Christoph Biermann, Ulrich Fuchs: «Der Ball ist rund, damit das Spiel seine Richtung ändern kann», Kiepenheuer & Witsch.
Jonathan Wilson: «Revolutionen auf dem Rasen; eine Geschichte der Fussballtaktik», Verlag die Werkstatt.

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