Island, das heute in Saint-Etienne auf Portugal trifft, stellt bezüglich Einwohner den kleinsten EM-Teilnehmer überhaupt. Das 4:4 2013 gegen die Schweiz gilt als Initialzündung für den Aufschwung.
Annecy-le-Vieux. Ein kleines französisches Städtchen am Ufer des Lac d’Annecy, rund 30 Kilometer südlich von Genf. Ruhig, idyllisch, mit wunderschöner Sicht auf die westlichen Alpen. Wer es laut mag, sei hier falsch, sagt ein junger Einheimischer, der es sich anders wünscht. Es ist ein passender Ort für Islands Nationalteam, den bevölkerungsmässig kleinsten EM-Teilnehmer. Selbst das Wetter ist in diesen Tagen isländisch angehaucht. Sonne und Schauer wechseln sich ab, nur ist es wärmer. Gute Bedingungen, um sich den Feinschliff für die EM zu holen.
Auch rund um das isländische Nationalteam sind die Dinge überschaubar. Das Interesse der Einheimischen an der Anwesenheit des EM-Teilnehmers hält sich in Grenzen. Rugby ist hier populärer und Islands Strahlkraft zu klein, um sportlich fremdzugehen. Von den Journalisten wird das Team nicht ganz so extrem abgeschottet wie die grossen Nationen oder die Schweiz. Einige der Medientermine finden nicht wie sonst an den Grossanlässen gängig anlässlich einer Pressekonferenz statt, sondern im Anschluss an die Trainings in lockerer Atmosphäre.
Das alles soll nicht über die Euphorie hinweg täuschen, welche Islands Fussballer mit der erstmaligen Qualifikation für eine Endrunde entfacht haben. Rund 4000 Isländer sind bereits nach Frankreich gereist. Beim Auftaktspiel am Dienstag gegen Portugal in Saint-Etienne erwartet der Verband zwischen 10’000 und 15’000 Anhänger aus der Heimat. Eine beachtliche Zahl angesichts der bloss 320’000 Einwohner, die das Land zählt.
Handball, Kraft- und Denksport
Noch vor wenigen Jahren gehörten die Isländer im Fussball zu den Leichtgewichten. Mit den grossen Nationen hielten sie in anderen Sportarten mit, allen voran im Handball, wo sie 2008 in Peking Olympiasilber gewannen. Oder am «World’s Strongest Man», dem Kraftsport-Wettkampf, bei dem der für seine Vulkane bekannte nördliche Inselstaat die erfolgreichste Nation ist. Prozentual stellt das Land zudem weit überdurchschnittlich viele Schach-Grossmeister.
Der Aufschwung im Fussball ist kein Zufallsprodukt. Nach der Jahrtausendwende optimierte Island seine Jugendausbildung, investierte viel Geld in Kunstrasen, Kleinfeldplätze und Hallen. Erst dadurch war wegen des kalten und nassen Winters ein Ganzjahresbetrieb möglich. Das 4:4 2013 in Bern gegen die Schweiz in der WM-Qualifikation gilt als Initialzündung. Die Aufholjagd vom 1:4 zum 4:4 gab dem Team das nötige Selbstvertrauen.
Harte Arbeiter
Trainer Lars Lagerbäck, der die «Strakarnir okkar» seit 2011 und noch bis Ende der EM coacht, zeigt sich von der Einstellung seiner Schützlinge beeindruckt: «Dieses Team zeichnet vor allem der volle Einsatz und die starke Physis aus.» Nationaltorhüter Hannes Halldorsson erklärt die isländische Mentalität so: «Die Natur hat uns abgehärtet. Es ist kalt im Winter, es ist windig. Deshalb sind wir harte Arbeiter.»
Halldorsson ist einer, der die isländische Hartnäckigkeit verkörpert. Wegen diverser Verletzungen im Teenager-Alter schien eine Profikarriere als Fussballer für den heute 32-Jährigen nicht mehr möglich. Nachdem er mit 19 Jahren endlich regelmässig trainieren konnte, kämpfte er sich von der heimischen 4. Liga bis zum Stammgoalie in der höchsten niederländischen Liga (Nijmegen) hoch.
Unter Lagerbäcks fünfjähriger Führung machte die Mannschaft zudem taktische Fortschritte. «Ich glaube, die Spieler hatten mit mir nicht viel Spass, aber dafür sind wir jetzt eines der am besten organisierten Teams», sagt der Trainer, was bei den mithörenden Spielern für ein Schmunzeln sorgt.
Zwei Siege gegen die Niederlande als Massstab
Seit der Schwede das Kommando übernommen hat, machte Island in der Weltrangliste fast 100 Plätze gut, liegt aktuell als 34. vor Ländern wie Schweden (35.) und Griechenland (40.). Die erstmalige EM-Qualifikation hat sich das Land, das mehr Schafe als Einwohner zählt, mit Platz 2 in der Gruppe mit Tschechien, den Niederlanden und der Türkei verdient.
Vor allem die beiden Siege über die Niederlande schüren bei den Fans hohe Erwartungen. Geht es nach ihnen, soll Island die Achtelfinals erreichen – mindestens. Dass die Mannschaft dünn besetzt ist und Ausfälle von Stammspielern nicht zu kompensieren vermag, lassen sie ausser Acht. Sie sehen, dass viele der Stammspieler inzwischen in den europäischen Spitzenligen spielen und dass die mit 37 Jahren etwas gealterte Legende Eidur Gudjohnsen nach wie vor zum Team gehört, übersehen aber, dass zum Beispiel Halldorsson sein Geld zunächst als Fotograf verdiente.
Sie hätten die grösste Fussball-Party gefeiert, die Island jemals erlebt habe, sagte Halldorsson nach der Qualifikation für die EM. Sollte das kleine Island die Grossen auch in Frankreich ärgern, dürfte während des Turniers ein noch grösseres Fest folgen.