Die «Vielfalt am Limit», die Carlo Chatrian als neuer Direktor des Filmfestivals Locarno versprochen hat, scheint er zu liefern. Gleichzeitig bestätigen die ersten Tage den Eindruck, dass er auf künstlerische Kompromisse zu verzichten wagt.
Wie einst sein Vorgänger Olivier Père mit «L.A. Zombie» (2010) hievte Chatrian mit «Feuchtgebiete» einen skandalisierbaren Streifen in den internationalen Wettbewerb, was ihm absehbar neben Schlagzeilen auch Ärger eintragen dürfte. Am Dienstag wird mit «L’Expérience Blocher» erneut ein umstrittener Film zu sehen sein.
Gleichzeitig verzichtete Chatrian auf sichere Publikumsmagnete mit Lokalbezug. So feiern zwei Romanverfilmungen, die im Tessin spielen – «Die schwarzen Brüder» von Xavier Koller und «Am Hang» von Markus Imboden – nicht in Locarno Weltpremiere, sondern erst im Herbst am Zurich Film Festival (ZFF), wie dieser Tage bekannt wurde.
Chatrians Entscheide flössen Respekt ein – ob sie richtig waren, wird sich weisen müssen, zumal etwa die Piazza Grande-Sparte auch dieses Jahr nicht nur Highlights aneinanderreiht. Mit dem Krimi «La variabile umana» war zumindest seit langem wieder eine gross angelegte italienische Produktion in Locarno zu sehen.
Anrührende «Feuchtgebiete»
Für zahlreiche Schlagzeilen im Vorfeld des Festivals sorgte die Weltpremiere von «Feuchtgebiete» nach dem Buch von Charlotte Roche. Erwartungsgemäss fliessen in dem Film alle erdenklichen Körpersäfte. Überraschender: Das ist nicht langweilig.
Die ekligen, skurrilen und ja, durchaus krassen Szenen sind eingefügt in eine anrührende Coming-of-Age-Geschichte. Helen Memel (Carla Juri) pfeift zwar auf hygienische Konventionen, ist aber auch ein Mädchen, das sich – «wie alle Scheidungskinder» – wünscht, dass ihre Eltern wieder zusammenkommen.
Als Beitrag zur feministischen Debatte wirkt «Feuchtgebiete» von David Wnendt deplatziert, da Helen wenig Interesse zeigt an der Welt, in der sie lebt. Im Wettbewerb ist der Streifen im Zeichen von «extremer Vielfalt» trotzdem zu begrüssen.
Chatrian ist auf gutem Wege, Locarno in guter Verfassung. Auch Präsident Marco Solari, der sein Festival stets für bedroht hält, und der dieses Jahr mit einer besonders düsteren Eröffnungsrede auffiel, könnte sich glücklich schätzen.