Der russische Regierungskritiker Michail Chodorkowski ist unmittelbar nach seiner Begnadigung überraschend nach Deutschland ausgereist. Er habe Präsident Wladimir Putin ersucht, ihn aus «familiären Gründen» zu begnadigen, erklärte Chodorkowski am Freitag.
Dies sei aber nicht als Schuldeingeständnis zu werten, hiess es in der ersten Mitteilung des früheren Öl-Milliardärs nach seiner Freilassung. Chodorkowski war am Morgen nach zehnjähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen worden, nachdem ihn Präsident Wladimir Putin begnadigt hatte.
Chodorkowski landete am Freitagnachmittag auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld, wo ihn der frühere Aussenminister Hans-Dietrich Genscher in Empfang nahm. Er dankte Genscher für dessen Bemühungen um seine Freilassung.
Genscher hatte sich hinter den Kulissen länger um die Freilassung Chodorkowskis bemüht und dazu nach eigenen Angaben auch zweimal Kremlchef Putin zu Gesprächen getroffen. Chodorkowski kam mit einem Firmenflugzeug nach Berlin, das Genscher organisiert hatte. An der Ausreise waren auch die deutsche Botschaft in Moskau und das Auswärtige Amt beteiligt.
Die russische Strafvollzugsbehörde hatte zuvor mitgeteilt, Chodorkowski habe um die Ausreise nach Deutschland gebeten, weil dort seine krebskranke Mutter behandelt werde. «Seiner Bitte wurde entsprochen», hiess es.
Chodorkowskis Mutter selbst sagte dagegen der Staatsagentur Itar-Tass, sie sei momentan in Russland. Sie sei vor einiger Zeit in Deutschland behandelt worden. Laut Genscher wird Chodorkowskis Mutter aber am Samstag nach Berlin kommen, um ihren Sohn wiederzusehen.
Humanitäre Gründe für Freilassung
Kremlchef Wladimir Putin hatte den 50-Jährigen mit einem Erlass begnadigt. Kurz danach verliess der einst reichste Mann Russlands gegen 12.20 Uhr Ortszeit (9.20 Uhr MEZ) das Straflager nahe der Grenze zu Finnland. Putin machte humanitäre Gründe für die Freilassung seines seit 2003 inhaftierten Gegners geltend.
Chodorkowski hätte regulär nach zwei international umstrittenen Urteilen im August 2014 wieder in Freiheit kommen sollen. Ein Begnadigungsgesuch hatte er stets abgelehnt, weil damit nach Angaben des Kreml ein Schuldeingeständnis verbunden ist. Der frühere Chef des einst grössten russischen Ölkonzerns Yukos war unter anderem wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Diebstahls verurteilt worden.
Zugeständnis an Westen vor Sotschi
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel begrüsste die Freilassung Chodorkowskis. «Sie freut sich sehr», sagte der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter.
Chodorkowski, der die zunehmende Korruption unter Putin kritisiert und auch die Opposition finanziert hatte, hält die Verfahren gegen sich bis heute für politisch gesteuert. Dass er nun freikommt, gilt als beispielloses Zugeständnis des Kremls an den Westen vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi.
Russland sah sich zuletzt zunehmend wegen der Menschenrechtslage unter Druck. Mehrere Politiker, darunter US-Präsident Barack Obama und Bundespräsident Joachim Gauck, hatten angekündigt, auf Reisen in den Schwarzmeerort Sotschi zu verzichten. Kommentatoren in Russland nannten die Nachricht von der Begnadigung Chodorkowskis eine «handfeste Sensation».
Ankündigung Putins kam überraschend
Putin hatte am Donnerstag überraschend von einem Gnadengesuch Chodorkowskis gesprochen. Die Zeitung «Kommersant» berichtete, dass sich Geheimdienstmitarbeiter mit Chodorkowski im Straflager getroffen hätten, um den Straferlass auf den Weg zu bringen. Auch die Anwälte des einst reichsten Russen waren überrascht worden von der Nachricht.
Menschenrechtler lobten Putins Schritt und boten Chodorkowski eine führende Rolle beim Aufbau der Zivilgesellschaft in Russland an. Die Freilassung sei ein ermutigendes Signal für eine «Gesundung» der russischen Gesellschaft, teilten die Menschenrechtsbeauftragten Wladimir Lukin (Regierung) und Michail Fedotow (Kreml) mit.