Kultwerk #111: Summertime

Vor 75 Jahren bescherte Sidney Bechet dem Label Blue Note Records mit «Summertime» den ersten Hit – die Arie wurde ein Jazzstandard.

Der Jazz-Saxophonist und -Klarinettist Sidney Bechet aus New Orleans, USA, bei einem Auftritt in den 1950er-Jahren. (Bild: Keystone)

Vor 75 Jahren bescherte Sidney Bechet dem Label Blue Note Records mit «Summertime» den ersten Hit – die Arie wurde ein Jazzstandard.

Vor 75 Jahren nahm Sidney Bechet für Blue Note Records «Summertime» auf und bescherte dem jungen New Yorker Label den ersten Hit. Blue Note wurde bald für avantgardistische Jazzaufnahmen bekannt. Die Anfänge selbst waren nicht revolutionär. Zu Beginn nahm das Label Platten mit leicht verdaulichem Boogie Woogie auf. Billie Holliday hatte «Summertime» schon 1936 aufgenommen und Sidney Bechet, der mit allen Berühmtheiten zusammengespielt hatte und international unterwegs war, gehörte längst zu den Grossen. Doch gerade «Summertime» trug die Symbolik in sich, um den Anfang des grossen Labels zu bezeichnen. Der Song schlug eine Brücke zwischen Schwarz und Weiss – so wie Blue Note Records und Jazzmusik überhaupt.

«Summertime» ist ursprünglich eine Arie aus der Oper «Porgy and Bess». George Gershwin komponierte sie im Jahr 1935 und siedelte sie in einem Hafenmilieu der Südstaaten an. Den Part der Clara, zu dem auch «Summertime» gehört, übernahm bei der Uraufführung und ersten Plattenaufnahme Abbie Mitchell. Mitchell war die Tochter einer Afroamerikanerin und eines deutschen Juden. Vom zukünftigen Jazzstandard ist in der Arie noch nichts zu ahnen. Ein typisch knackiger Gershwin zwar, doch das Stück ist ganz und gar Oper. Mitchell sang «Summertime» mit klassisch ausgebildetem Sopran und grossem Vibrato, von Groove war keine Spur. Mehr noch bei Helen Jepson, mit der die erste kommerzielle Aufnahme von «Summertime» besorgt wurde. Die blonde Lady trat mit rollendem R und Bühnenenglisch auf, im Übrigen war sie im klassischen Opernrepertoire zu Hause. Es heisst, Gershwin selbst habe die Aufnahme mit ihr betreut, bevor er 1937 starb.

Vom Saal in den Club

Nun nahm sich für Blue Note mit Sidney Bechet ein Schwarzer aus New Orleans der Arie an. Er hatte sich das Klarinettenspielen selber beigebracht und konnte zeitlebens keine Noten lesen – die Opernarie zog in den Jazzclub ein.

Blue Note selbst ist ein Kind von Grenzüberschreitungen. Sein Gründer Alfred Lion hiess ursprünglich Loew zum Nachnamen und stammte aus Berlin. Er war jüdischer Abstammung und musste in den 1930er-Jahren aus Deutschland emigrieren. Angekommen in New York gründetet er 1939 zusammen mit Max Margulis Blue Note Recods. Wenig später kam der Jugendfreund und Fotograf Frank «Francis» Wolff nach, ebenfalls auf der Flucht, und wurde sein Partner. Das klangvolle Gespann Lion und Wollf, das selbst dem Pogrom entkommen war, wurde bald dafür bekannt, sich um die herrschende Rassentrennung zu foutieren.

Manager für Artist & Repertoire wurde der dunkelhäutige Saxofonist Ike Quebec, was seinerzeit einen Skandal bedeutete. Ebenfalls ungekannt war, dass Lion und Wolff den Musikern nicht nur die Aufnahmesessions, sondern auch die letzte Probenzeit bezahlte. Die grossen amerikanischen Labels entlohnten die Musiker in den 1930er-Jahren so schlecht, dass die Musikergewerkschaft 1942 für zwei Jahre den Recording Ban durchsetzte, der Aufnahmen grundsätzlich untersagte. Ausgerechnet das engagierte Label Blue Note geriet dadurch in Schwierigkeiten.

Seine besten Zeiten erlebte Blue Note in den 1950er- und 1960er-Jahren, als der Hard Bop aufkam. Lion und Wolff hatten ein Gespür für die Stimmen von morgen und wurden zum wichtigsten Organ des afroamerikanischen Jazz. Hier nahmen alle auf: Miles Davis, Sonny Rollins, später Herbie Hancock. Die Timeline bei Blue Note ist endlos. Das Credo, nach dem Lion und Wolff einen Musiker unter Vertrag nahmen oder eben nicht, war dementsprechend untrüglich: «It must schwing.»

Alfred Lion
Für Musik interessierte er sich von jeher mehr als Hörer denn als Spieler. Das Berlin der 1920er-Jahre bot dafür das Umfeld. Ein Berlinbesuch der «Chocolate Kiddies» pflanzte Alfred Lion den Jazzkeim ein. 1967 zog er sich aus dem Geschäft zurück, da er nach eigener Einsicht den Entwicklungen des Jazz nicht mehr folgen konnte.




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