Vor 500 Jahren schuf Albrecht Dürer einen seiner Meisterstiche – die «Melencolia». Noch heute rätseln die Kunstwissenschaftler, was der deutsche Künstler uns damit sagen wollte.
Ein 500 Jahre altes Rätselbild: Albrecht Dürers «Melencolia I».
Wenige Kunstwerke haben mehr Rätsel aufgegeben als Albrecht Dürers Stich «Melencolia I». Noch heute ist die Bedeutung des Bildes aus dem Jahr 1514 nicht bis ins Letzte entschlüsselt, und immer noch zitiert man gerne den Schweizer Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin, der 1923 schrieb, die «Melencolia» werde immer ein «Tummelplatz der Deutungen bleiben».
«Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?» Das fragte in der Antike Aristoteles, und eigentlich klingt dies gar nicht so negativ. Trotzdem wird Melancholie meist mit Schwermut, mit Traurigkeit gleichgesetzt, auch im 20. Jahrhundert noch, wo der Begriff durch das Wort Depression ersetzt wurde. Aristoteles dachte wohl eher an Nachdenklichkeit, an die Suche nach Lösungen – die, wie wir alle wissen, manchmal tatsächlich zur Verzweiflung führen kann.
Das Rätseln fängt schon bei der geflügelten Hauptfigur an: Ist es ein Engel? Eine Frau? Ein Mann? Vielleicht ist eine Zuschreibung zu einem Geschlecht auch gänzlich unwichtig – ist es doch wahrscheinlich schlicht die Personifikation der Melancholie, die wir hier sehen. Sie stützt den Kopf schwer in die eine Hand, in Gedanken versunken. Der Blick jedoch hellwach. Ihre Flügel könnte man – dem Gedanken Platons folgend, dass die Kraft von Gefieder ist, Schweres in die Höhe zu heben – als Mittel gegen melancholische Zustände deuten: Bei Dürer allerdings schwingen sie nicht empor, sondern sind untätig und zusammengefaltet. Der Flug in die Schwerelosigkeit findet nicht statt.
Damit kündigt sich schon an, dass Dürer sich sicher breit erkundigte, die unterschiedlichsten Theorien, Motive und Symbole zusammensuchte und in sein Bild packte. Entsprechend komplex fällt die ikonografische Deutung des Werkes aus.
Der Gott der Melancholie
Es gibt keinen Gegenstand und keine Figur auf dem Bild, die nicht in Zusammenhang mit Melancholie zu lesen wären – wenn auch nur wenigen zweifelsfrei eine einzige Bedeutung zugewiesen werden kann. So wie dem Hund etwa, der als klassisches Begleittier des Melancholikers wie auch des Gelehrten fungiert. Der Blätterkranz auf dem Kopf der «Melencolia» ist vielleicht aus einem Kraut gewunden, das als Heilmittel gegen Melancholie taugen könnte. Oder aber es handelt sich um einen saturnischen Blätterkranz und ist somit das Emblem des Gottes der Melancholie.
Wirr verstreut liegen Geräte um die Figuren herum. Zeichen der Unordnung als Hinweis auf die geistige Verfassung, Zeichen der Verzweiflung? Die handwerklichen Gerätschaften verweisen auf die Anwendungsebene von Mathematik und Geometrie: auf Berufe wie Tischler oder Zimmermann, Steinmetz oder Architekt. In der astrologischen Tradition wird die Geometrie und die an sie gebundenen Berufe wiederum dem Planeten Saturn – dem Gott der Melancholie – zugeordnet. Ist es zudem der saturnische Komet, der seine Strahlen auf den Himmel projeziert? Ist all dies nur die bildliche Darstellung für die Frage, welchen Platz der Mensch im Kosmos einnimmt?
Man könnte weiterrätseln, und man wird es auch tun. Nur einen klaren Hinweis hat Dürer uns gegeben: In einem magischen Quadrat hat er in die unteren Ecken die Zahlen 4 und 1 eingefügt. Sie stehen für die jeweiligen Buchstaben im Alphabet: A und D, Albrecht Dürers Initialen. Dazwischen hat er die Jahreszahl hinterlassen, wann der Stich entstand: 15 und 14, für 1514. Im Mai 1514 ist die Mutter des Malers gestorben – vielleicht war dieses Ereignis der Anlass für dunkle Gedanken, die zu diesem «Meisterstich» führten.
Der Nürnberger Albrecht Dürer gehört zu den bekanntesten Künstlern des Humanismus und der Reformation. Er leistete vor allem in den Bereichen des Kupferstiches und des Holzschnittes Bedeutendes, was ihn in ganz Europa bekannt machte. Er war im Übrigen der erste Künstler, der seine Grafiken systematisch mit einem Monogramm kennzeichnete – was später zu einer Art Gütesiegel wurde.