Vor 50 Jahren wurde Friedrich Dürrenmatts Theaterstück am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt.
Die Diskussion um die moralische Verantwortbarkeit wissenschaftlicher Forschung ist ein Dauerbrenner. Das von AKW-Befürwortern propagierte «friedliche Atom» zeigte vor knapp einem Jahr seine zerstörerische Kraft, als die Tsunami-Katastrophe in Japan ein nukleare und menschliche nach sich zog. Es ist diese zeitlose Aktualität und ethische Relevanz, die heute noch an Dürrenmatts «Physiker» fasziniert, fesselt und einen nachdenklich stimmt.
Mit sprachlicher Präzision und dem berühmten Sinn für das Paradoxe entwirft Friedrich Dürrenmatt einen präatomaren Super-GAU mitten in der Schweizer Landschaft: drei Physiker befinden sich in der Villa einer Irrenanstalt. Der eine hält sich für Albert Einstein und fiedelt zur Beruhigung auf seiner Geige, der andere meint, er sei Isaac Newton und trinkt gerne ein Schnäpschen. Der dritte, Josef Wilhelm Möbius, wird von Visionen heimgesucht.
Die Weltformel
Doch Letzterer hat sich – wie am Ende herauskommt – in die Anstalt begeben, um die Menschheit vor seinen revolutionären Erkenntnissen der «Weltformel» zu bewahren. Newton und Einstein werden als Agenten rivalisierender Geheimdienste demaskiert, die die Erkenntnisse von Möbius in ihren Besitz bringen wollen. Macht und Moral bestimmen Fortschritt oder Weltuntergang. Doch sind die drei direkt in die Arme der wahnsinnigen Dr. Mathilde von Zahnd gelaufen. Als Stellvertreterin König Salomos und mit Möbius’ «Weltformel» will sie zur Weltherrschaft gelangen und gefährdet so die ganze Menschheit. Die drei Wissenschaftler morden ihre Pflegerinnen, um ihr Wissen als verrückt zu stigmatisieren. Zu spät. Das Fräulein Doktor hat längst alle Manuskripte kopiert und eine Geld- und Machtmaschinerie in Gang gesetzt.
Der schlimmste aller Fälle
Inspiriert durch das Buch «Heller als tausend Sonnen» des Publizisten Robert Jungk schrieb Dürrenmatt seine Parabel über den Nutzen und die Gefahr der Kernphysik- und insbesondere der Atomforschung 1961 nieder. In der Zeit, als ernsthaft die Bewaffnung der Schweiz mit Atombomben in Betracht gezogen wurde. Vor Tschernobyl, vor Fukushima und vor der Kuba-Krise. «Eine solche Geschichte ist zwar grotesk, aber nicht absurd», wie Dürrenmatt in eigenen Ergänzungen zum Stück festhielt. Was passiert, wenn die Wissenschaft zum Spielball der Macht wird? Ist Moral profitlos? Im Theater tritt der schlimmste aller möglichen Fälle ein: das revolutionäre Wissen gerät in die falschen Hände. Einmal Gedachtes kann nicht zurückgenommen werden.
«Die Physiker» gehört zu den am häufigsten gespielten Theaterstücken im deutschsprachigen Raum. Derzeit ist es im Programm des Förnbacher Theaters zu sehen. Nächste Aufführung ist am 15. März.
Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen (BE) geboren. Er studierte Philosophie, Literatur und Naturwissenschaften, wurde freier Schriftsteller, Journalist, Maler und war einige Zeit Co-Direktor des Stadttheaters Basel. Dürrenmatt verfasste Krimis, Essays, Hörspiele und preisgekrönte Theaterstücke. Er starb 1990.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 17.02.12