Kultwerk #8: The Secret Garden

Frances Hodgson Burnetts Buchklassiker berührt auch nach einem Jahrhundert noch kleine und grosse Kinder.

Frances Hodgson Burnetts Buchklassiker berührt auch nach einem Jahrhundert noch kleine und grosse Kinder.

Es ist ein ganz spezieller Zauber, der über den einstigen Lieblings-Kinderbüchern liegt. Oft ist die eigentliche Geschichte schnell erzählt und von untergeordneter Tragweite, im Vergleich zur wunderbaren Wunderwelt der eigenen Vorstellungskraft, der kindlichen Phantasie, die sich in Details austobt und Jahrzehnte später lebendig wird, wenn man das Buch zur Hand nimmt. Ein Werk, das hierfür wie geschaffen scheint, ist Frances Hodgson Burnetts «The Secret Garden» (1911): Das Mädchen Mary Lennox, das darin als Einzige im kolonialen Indien eine Cholera-Epidemie überlebt, wird als Waisenkind zu ihrem Onkel Archibald Craven nach England geschickt.

Im düsteren Anwesen «Misselthwaite» vegetiert das verzogene Gör zunächst triste vor sich hin, da weder Gutsherr noch Bedienstete Interesse an ihr zeigen, und die meisten der über hundert Türen im Haus für sie ebenfalls verschlossen bleiben. Aus dieser Not macht Mary Lennox eine Tugend: Das unselbstständige, verwöhnte Mädchen überwindet seine Ängste und entdeckt nicht nur den titelgebenden geheimen Garten, sondern auch ihren Cousin Colin, der – genau wie einst sie selbst – als überbehüteter Gefangener im eigenen Heim sein Dasein fristet.

Während für Kinder die Idee eines geheimen Gartens den Reiz des Buches ausmacht, bildet für ältere Leser von Hodgson Burnetts Geschichte die psychologische Charakterzeichnung den eigentlichen Clou: Schonungslos direkt und ohne jegliches (Selbst-) Mitleid zeigt die selber mehreren Schicksalsschlägen ausgesetzte Autorin die Konsequenzen falscher Erziehung auf. Die Erwachsenen in «Der geheime Garten» zeichnen sich vor allem durch Egozentrik und Distanz, durch emotionale Kälte und Abwesenheit aus. Vom Nachwuchs wird hingegen verlangt, was man selber nicht fertig kriegt: gute Manieren und Mitgefühl, Offenheit und Interesse an Neuem. Dabei, so Hodgson Burnetts simple Pointe, käme die Entwicklung der Kinder von alleine in Gang, wenn man sie nur selber Verantwortung übernehmen liesse, ihrer Kreativität Raum gäbe: etwa in der Umgestaltung eines verwilderten Gartens.

«Der geheime Garten», vor hundert Jahren zum ersten Mal veröffentlicht, mag weniger spektakulär sein als Hodgson Burnetts erster Bestseller «Der kleine Lord», der gerade zur Weihnachtszeit omnipräsent scheint. In seiner simplen, wilden Schönheit steht der Klassiker seinem Schauplatz, dem Hochmoor Yorkshires, aber in nichts nach.

In dieser Rubrik stellen wir jeweils ein Kultwerk vor, das in keiner Sammlung fehlen sollte.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16/12/11

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