Vor 125 Jahren malte Vincent Van Gogh in der Provence vor allem eines: Jede Menge grosse, gelbe Sonnenblumen.
Ich erinnere mich daran, wie mich zu Beginn meiner journalistischen Tätigkeit ein Kollege ermahnte: Was immer du über Kunst auch schreibst, vermeide unter allen Umständen das Wort «schön» in einer Kritik. Denn dieses Adjektiv verweise darauf, dass das beschriebene Werk höchstens zur Dekoration tauge. Schon damals habe ich mich gefragt, ob das denn so schlimm sei, wenn ein Kunstwerk auch ein dekoratives Element besitzt – schliesslich werden oder wurden nicht wenige Werke genau aus diesem Grund überhaupt geschaffen.
Vincent Van Gogh beispielsweise malte seine «Sonnenblumen» im August 1888 zu keinem anderen Zweck. Er wollte damit das Haus in Arles verschönern, das er mit Künstlerkollege Paul Gauguin zusammen zu bewohnen gedachte. In einem Brief an seinen Bruder Theo schrieb er am 21. August: «In der Hoffnung, mit Gauguin in unserem eigenen Atelier zu leben, möchte ich gern einen Bilderschmuck für das Atelier machen. Nichts als grosse Sonnenblumen.» Und so malte er tagelang – nichts als Sonnenblumen.
Wer einmal in Arles war, der weiss, dass rund um das Städtchen in der Provence im Spätsommer unzählige dieser gelben grossen Korbblütler ihre Köpfe gegen die Sonne richten. Keine andere Blume verbindet man so stark mit Südfrankreich (vom Lavendel abgesehen), und daran hat Van Gogh wohl keinen geringen Anteil. Denn Van Gogh malte nicht nur ein einzelnes Bild mit Sonnenblumen, sondern gleich ein ganzes Dutzend, eine wahre «Symphonie in Blau und Gelb», wie er selber sagte. So schrieb er im bereits erwähnten Brief an seinen Bruder, er solle ihm bitte neue Farben schicken, denn, «wenn ich die Sonnenblumen fertig habe, wird mir vielleicht Gelb und Blau fehlen».
Variantenreich
Jeden Morgen bei Sonnenaufgang machte er sich an die Arbeit, denn die Blumen verwelken schnell, und die Bilder mussten in einem Zug gemalt werden. Die Anzahl der Blumen in der Vase steigerte er kontinuierlich: Erst drei, dann fünf, zwölf, schliesslich fünfzehn. Ansonsten variierte er vor allem den Hintergrund: gelb, ocker, blau oder helltürkis.
Heute kauft man Van Goghs «Sonnenblumen» in jedem Museumsshop zum Selbermalen. Malen nach Zahlen heisst die Devise, und wer es schon probiert hat, der weiss, dass der Ruhm von Van Goghs «Sonnenblumen» nicht nur im Dekorativen liegt. Man braucht auch Talent in der Führung des Pinsels und ein geschultes Auge. Van Gogh war in beidem bekanntlich meisterhaft.
Gauguin wohnte schliesslich rund zwei Monate lang mit Van Gogh in jenem Haus – bis hin zu jenem mythenreichen Streit, bei dem Van Gogh Teile seines linken Ohres verlor. Ob die Sonnenblumen tatsächlich an den Wänden hingen, ist uns nicht bekannt. Heute jedenfalls befinden sie sich in mehreren berühmten Museen weltweit und gehören zu den wertvollsten Werken, die ein Maler je geschaffen hat.