Kunde im Dienst

Vom Dienst am Kunden reden alle. Doch Automatisierung und Elektronisierung führen eher zum Gegenteil. Einkaufen und Konsumieren werden immer mehr zum Dienst am Anbieter.

Alles muss man selber machen – sogar das Kassieren im Supermarkt. (Bild: zVg)

Vom Dienst am Kunden reden alle. Doch Automatisierung und Elektronisierung führen eher zum Gegenteil. Einkaufen und Konsumieren werden immer mehr zum Dienst am Anbieter.

Wir leben in einer Dienstleistungsgesellschaft. Das ist eine Binsenwahrheit, die dadurch bestätigt wird, dass in der Schweiz der Anteil der Arbeitsplätze sowohl im primären Sektor (Rohstoffgewinnung, Landwirtschaft) als auch im sekundären Sektor (Industrie) in den letzten Jahrzehnten laufend kleiner geworden ist und längst vom tertiären Sektor (Dienstleistungen) überflügelt wurde. Die Frage ist nur, wer in dieser Dienstleistungsgesellschaft die Dienste für wen leistet.

Wenn man sich bei Starbucks den populären Caffe Latte oder den raffinierteren Caramel Macchiato an der Theke abholt, empfängt man dann eine Dienstleistung (Aufbrühen von Kaffee) oder leistet man einen Dienst (als Kellner meiner selbst)?

Als Kunde tippt man wahrscheinlich auf Letzteres. Denn bedient wird man heute kaum mehr. Beziehen Sie zum Beispiel am Postomat Bargeld, dann nehmen Sie der Post eine Dienstleistung ab. Wenn Sie E-Banking betreiben, arbeiten Sie als Bankkassierer und womöglich als Wertpapierhändler (und übernehmen ganz nebenbei einen Teil des Bankier­risikos). Wer online Theatertickets kauft, übernimmt die Arbeit der Vorverkaufskasse. Und wenn man einen Flug online bucht und so auch die Platzreservation macht, erweist man der Swiss (oder ab Basel meistens EasyJet, da fehlt nämlich die Dienstleistung von Swiss-Direktflügen weitgehend) einen Dienst.

Abermillionen Arbeitsstunden

«Nur eine Form der Bedienung funktioniert reibungslos», spottete die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» schon vor Jahren, «die Selbstbedienung.» Da sind Abermillionen von Arbeitsstunden im Spiel, die unentgeltlich, meist für bestimmte Unternehmen geleistet werden. Und keine Gewerkschaft geht auf die Barrikaden.

Bei allen erwähnten Beispielen gilt, wie häufig in der Ökonomie, auch das exakte Gegenteil. Wenn der Kunde Teile der Fertigungs- und Vertriebskette selber übernimmt, leistet er natürlich dem Anbieter einen Dienst. Aber eben auch sich selber. Produkte, deren Endmontage oder Installation dem Kunden überlassen wird, kommen diesen in der Regel günstiger zu stehen – es sei denn, er müsse später dennoch Hilfe in Anspruch nehmen.

Dienstleistungen, die sich der Kunde selber mithilfe von Automaten beschafft, funktionieren in der Regel schneller, als wenn er den entsprechenden Dienst eines Anbieters erwartet. Die Automatisierung und Elektronisierung des Vertriebs steigert also die Effizienz – und zwar sowohl für den Anbieter als auch für den Kunden. Wer unter dem Strich drauflegt, darüber kann man streiten.

Beratung kostet – von Beginn weg

Etwas anderes geht aber verloren. Erinnern Sie sich an die goldenen Zeiten, als man «das 111» anrufen konnte und sich dort eine freundliche, meist weibliche Stimme meldete: «Auskunft, Sie wünschen?» Meist fragte man nach einer Telefonnummer oder Adresse. In mittlerweile historischen Zeiten konnte man auch Auskünfte anderer Art bekommen oder gar einen kleinen Schwatz mit der netten Dame halten. Der Service kostete nichts.

Wollte man mit der Bahn verreisen, begab man sich zum SBB-Schalter, gab seinen Wunsch kund und erhielt zusammen mit dem genau passenden Billett womöglich noch die Auskunft, an welchem Perron der nächste Zug in diese Richtung abfahre – verbunden mit dem freundlichen Wunsch «Eine gute Reise». Ausser den Preis für das Billett musste man nichts bezahlen.

Beide gibt es noch. Die Auskunfts­person beim Telefon nennt heute sogar ihren Namen; sie sucht die gefragte Telefonnummer elektronisch, die Verbindung kann sofort hergestellt werden. Aber diese Beratung kostet von der ersten Sekunde an.

Hinter den SBB-Schaltern sitzen immer noch nette Menschen – nur muss man oft längere Zeit Schlange stehen, um zu ihnen vorzustossen. Fahrplanauskünfte geben diese ansonsten freundlichen Menschen nicht mehr, dafür gibt es unter anderem einen telefonischen Dienst – und der kostet von der ersten Sekunde an. Die Schlangen werden bewusst in Kauf genommen. Schliesslich wollen die SBB ihre Kunden davon fernhalten und ihnen demnächst gar elektronische Tickets für den öffentlichen Verkehr aufoktroyieren. Als Kunde gerät man dann den SBB nur noch in Gestalt eines Chips in einer Plastikkarte unter die elektronischen Augen. Als Mensch erst, wenn man reklamiert.

Menschen sind das «Fräulein» von der Auskunft und der «Beamte» hinter dem Schalter. Sie sind Gesicht und Stimme des Service public. Genauso wie der ­Polizist im Strassenverkehr, der Kondukteur in der Bahn und anno dazumal der Billeteur im Tram.

Auch in der privaten Wirtschaft gibt es die Gesichter eines Unternehmens. Das sind immer jene Menschen, denen man als Aussenstehender zuerst begegnet. Das kann die Dame in der tunlichst hausinternen ­Telefonzentrale sein; wenn der Kunde merkt, dass er in die Warteschlaufe eines Callcenters geraten ist, ist sein Bild des Unternehmens bereits ramponiert. Das kann der Por­tier sein, die Vorzimmerdame des Chefs, der Concierge im Hotel, der Verkäufer im Geschäft für Unterhaltungselektronik, der wirklich ein Kundenberater ist und sich nicht nur so nennt.

Apparate statt Menschen

Dienstleistung ist nämlich vor allem ein Vorgang zwischen Menschen; Apparate können hilfreich sein, wenn auf der ­Input- wie auf der Output-Seite Menschen spürbar sind. Wenn ich statt mit einem Menschen nur mit einem Apparat zu tun habe, bleibt das Unternehmen kalt und leblos. Wenn ich mein Bargeld ohnehin nur aus dem Bancomat be­ziehen kann – weshalb sollte es dann ein Rolle spielen, ob ich mein Konto bei Raiffeisen, CS, UBS oder Kantonalbank habe? Der Apparat hat keine Identität, der junge Mann am Bankschalter schon. Er macht für den Kunden das Wesen dieser Bank aus.

Ich fahre seit Jahrzehnten die gleiche Automarke, nicht weil die wirklich die beste der Welt ist, sondern weil der Werkstattchef der Vertragsgarage mich seit Jahrzehnten zuverlässig begleitet. Die Technik des Autos ist auswechselbar, dieser Mechaniker nicht.

Versuchen Sie einmal, in Basel ein Paar Schuhe der Grösse 48 zu finden. Die häufigste Antwort lautet: «Wir haben nur bis Grösse 46/47.» Mit anderen Worten: «Such doch selber einen Schuh für deine grossen Flossen!» Es geht auch anders. Wenn man etwa ein Schuhgeschäft im Nachbarort Lörrach aufsucht. Dort heisst es: «Das haben wir wahrscheinlich nicht am Lager, aber wir können Ihnen fast jedes Modell in dieser Grösse bestellen.»

Schweiz als Schlusslicht

Kundendienst ist Dienst für den Kunden – schon wieder eine Binsen­wahrheit. Heute hat man aber in vielen Bereichen den Eindruck, Kundendienst bedeute «Dienst des Kunden». Dass das nicht einfach aus der Luft gegriffen ist, zeigt eine Befragung des Online-Reiseportals Zoover bei seinen Kunden in 23 Ländern: Betreffend «Gastfreundlichkeit» erscheint die Schweiz auf Rang 23. Für ein Fremdenverkehrsland ein vernichtendes Urteil.

Das heisst nun nicht, dass alle Anbieter alle Automaten entsorgen und ab sofort einen Kunden-Streichelzoo einrichten sollen. Sie sollen nur das tun, was sie stets zu tun behaupten: den ­Interessen und Bedürfnissen der Kunden nachkommen. Und die sind halt unterschiedlich. Für viele Kunden, wo­möglich sogar für eine Mehrheit, sind ­tatsächlich Preis und schnelle Ver­füg­barkeit die entscheidenden Kaufkrite­rien. Sie schätzen den ­direkten Zugang zu Produkten und Dienstleistungen über elektronische Medien – und ihnen ist es auch egal, wenn sie selber viel zum Gelingen des Handels beitragen müssen.

Andere Menschen wiederum haben andere Vorstellungen von Dienstleistung: Vorstellungen, in denen ein Kauf auch ein zwischenmenschliches Ereignis ist, ein Vorgang, bei dem man beraten und betreut wird. Solche Menschen stehen nicht gerne im Supermarkt vor fünf Regalmetern Joghurt: ratlos, weil sie es versäumt haben, sich zuvor im Internet oder – besser noch – in einem Studium der Ernährungswissenschaft kundig gemacht zu haben. Sie möchten dem Anbieter eigentlich gerne vertrauen, was sie aber angesichts der fünf Laufmeter dann doch lieber nicht tun.

Service ist für viele zentral

Diese Kunden werden auch nicht gerne von 30 Öko-Labels behelligt (Zählung der Konsumentenschützer), die jeweils von sich behaupten, sie seien die einzig zuverlässigen – sie empfinden das als einfältige Vielfalt. Menschen, die so einkaufen möchten, sind möglicherweise eine Minderheit. Aber eine zahlungskräftige. Und vermutlich sogar eine wachsende. Das lässt sich zum Beispiel daraus schliessen, dass sogar im Schnäppchen-bewussten Deutschland offenbar die Zahl der bedienten Tankstellen wieder zunimmt.

Vielleicht hat ja gerade das dazu beigetragen, dass es an der Lörracher­strasse in Riehen immer noch eine Tankstelle gibt, an welcher der Tank­wart das Benzin nachfüllt, die Scheiben reinigt, fragt, ober er Pneudruck, Öl- und Wasserstand überprüfen soll und dann «gute Fahrt» wünscht. Zugegeben, hier ist das Benzin ein paar Rappen teurer als an Selbst­bedienungs­tank­stellen. Die bezahle ich aber gerne. Sie wissen schon aus der Kosmetikwerbung: «Weil ich es mir wert bin.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.05.12

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