Läufst du noch oder sneakst du schon? Der Siegeszug des Turnschuhs

Kein Schuh ist so beliebt wie der Sneaker. Was steckt hinter seinem Welterfolg? Eine kleine Kulturgeschichte, inklusive kurzer Typologie von unserem internen Sneakerhead.

Mit diesem Schuh begann der Kult: Nike Classic Cortez, damals an den Füssen von Engel Farrah Fawcett.

(Bild: © Nike)

Kein Schuh ist so beliebt wie der Sneaker. Was steckt hinter seinem Welterfolg? Eine kleine Kulturgeschichte, inklusive kurzer Typologie von unserem internen Sneakerhead.

Es war 1964 und Kihachiro Onitsuka hatte einen Traum. Darin gings um Turnschuhe, schliesslich war Onitsuka Gründer und Chef der grössten Laufschuh-Firma Japans und sollte in wenigen Tagen Besuch von Phil Knight bekommen, der eben erst eine Schuhfirma gegründet hatte und Onitsukas japanische Treter nach Amerika bringen wollte.

Onitsukas Traum war – um es gelinde auszudrücken – grössenwahnsinnig für die Zeit: Alle Menschen sollten jeden Tag Sneakers tragen. Nicht nur beim Sport (das japanische Frauenvolleyball-Team hatte gerade in Onitsukas «Tiger»-Volleyballschuhen die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen von Tokio gewonnen), sondern überall und jederzeit. Bei der Arbeit, im Haushalt, in den Ferien, auf der Strasse.

Goldene Ära dank goldenem Mädchen

Der durchschnittliche Bürger hätte Onitsuka damals wohl ausgelacht. Turnschuhe im Alltag! Primitive Stoffschuhe mit Gummisohle! Undenkbar. Bisher hatte man auf Schuhwerk mit Ledersohle geschworen, auf robuste Treter für den Alltag, die lange hielten und einiges ertrugen. Stoffschuhe waren etwas für den Sport, angefangen beim Basketball, für den der Reifenkonzern Goodyear 1916 die ersten Segeltuchstiefel auf den Markt gebracht hatte. Verklebt mit einer Kautschuksohle und optisch verwandt mit den berühmten Converse «All Stars», die ein Jahr später das Hallenlicht erblickten und zum Kultschuh pickliger Grunge-Kids werden sollten. Aber dazu später.

Zurück zu Onitsuka. Das Treffen mit Knight verlief gut, Onitsuka begann, in die Staaten zu liefern. Ein paar Jahre später benannte Knight seine Firma in Nike um, zeitgleich entwickelten in Europa Adidas, Puma und Le Coq Sportif innovatives Sportschuhwerk. Der Sneaker befand sich auf dem Vormarsch, aber Onitsukas Vision war immer noch ein Traum: Turnschuh bedeutete weitgehend Turnschuh. Bis die Sache mit Charlie kam.

Oder besser gesagt, mit Charlies Engel:




(Bild: ABC Photo Archives)

Farrah Fawcett trug 1976 in einer Folge von «Drei Engel für Charlie» das Cortez-Modell der Firma Nike – und einen Tag später war der Schuh in den USA ausverkauft. Mit dem Golden Girl begann die goldene Ära der Sneakers – englisch für Schleicher, weil die Gummisohle im Vergleich zu ihren klobigen Kollegen beim Gehen kein nervtötendes Geklacker von sich gibt. 

Einen wesentlichen Einfluss auf die Popularität des Sportschuhs hatte auch Lasse Virén: Ebenfalls 1976 lief der finnische Leichtathlet und Gewinner bei den Olympischen Spielen von Montreal die Ehrenrunde mit seinen Onitsuka Tiger Runsparks in den erhobenen Händen. Das Bild ging um die Welt – sehr zum Unmut des Olympischen Komitees: Sponsoring war damals nämlich noch verboten. Virén rechtfertigte sein regelwidriges Verhalten mit einer Blase am Fuss – und Onitsuka erfreute sich in die Höhe schiessender Verkaufszahlen.

Blase am Fuss oder geschickte Produktplatzierung? Nach Lasse Viréns Ehrenrunde in Montreal gingen Onitsukas Turnschuhe weg wie warme Semmeln.

Jedem sein Schuh

Mittlerweile werden pro Jahr über 350 Millionen Sneakers verkauft. Onitsuka (heute Asics – für «Anima Sana In Corpore Sano») macht einen Umsatz von umgerechnet 1,7 Milliarden Franken, Adidas liegt bei 18 Milliarden und bei Nike sind es rund 31 Milliarden Franken. Der einst vulgäre Sportschuh ist heute nicht nur das beliebteste Schuhwerk aller Zeiten, er ist wie die schon erwähnten Converse All Stars oder die Birkin-Bag ein «Statement-Piece», ein fetischisiertes Objekt, das Status festlegt. 

Während die alten «Chucks» «Teen Spirit» atmen und die «Birkin» «ich gebe 100’000 Dollar für eine Tasche aus!» kräht, agiert der moderne Sneaker subtiler: Es gibt ihn in so vielen verschiedenen Ausführungen, dass vom Bünzli zum Bonzen jeder sein Modell finden kann – und jedes gibt zu verstehen: Swag, Mann. Coolness. Oder um es in den Worten von Run DMC zu sagen: «My Adidas and me, close as can be / we make a mean team, my Adidas and me.»

Darüber hinaus sagt kein anderer Schuh so viel über eine Person aus wie der Sneaker – zumindest, wenn es nach unserem TaWo-Sneakerhead geht: «Schuhe machen Leute», behauptet der und holt zur Typologie aus:

Für den Ländler einen Normalo-Nike SB Check,

für den Szeni einen prahlerischen Nike Air Huarache,

für den Füdlibürger einen praktischen ConWay Outdoor,

für den Banker einen (urgh) Gucci lace-up Sneaker

für die Gastros den bequemen schwarzen Nike Run Free,

fürs Bionade-Mami einen Nike Internationalist

und für alle anderen den klassisch-biederen New Balance ML574.

Obwohl wir kaum eines dieser Modelle kennen und auch nicht zu der Sorte Mensch gehören, die ihre Sneaker in Schränken so gross wie kleine Bibliotheken aufbewahren (inklusive Leiter, um an die obersten Exemplare zu kommen), muss an dieser Stelle zugegeben werden: Schuhe machen tatsächlich Leute – und Sneaker machen Individuen. Die Wirklichkeit hat Kihachiro Onitsukas Traum noch überflügelt.

Nächster Artikel