Er hat den Oscar für den besten ausländischen Film 2013 gewonnen. Auch für die Oscars 2014 ist er wieder im Rennen: Asghar Farhadi ist ein zeichenbewusster Botschafter eines Volkes das selten Zeichen setzen darf.
Als der iranische Regisseur Asghar Farhadi 2013 daen Golden Globe von Madonna überreicht erhielt, fürchtete man im Heimatland, sie könnte könnte ihn küssen. Doch Madonna war gewarnt: Als wäre sie eine Iranerin, sprach sie bei der Ankündigung sogar ‚Iran‘ korrekt aus … . Als Asghar Farhadi dieses Jahr in Cannes «Le Passé» präsentierte, diskutierte Frankreich über seinen Film, als wäre es ein französischer Film. Farhadi hat längst eine global gültige Sprache gefunden. Dennoch verweisen die Zeichen auf seine Wurzeln.
Im Kern des Films steht ein Beziehungs-Betrug, eine Frau zwischen zwei Männern. In Paris. Auf den ersten Blick eine französische Suche nach Wahrheit, wie sie sich auch bei uns in jeder Patchwork-Familie abspielen könnte.
Weil Asghar Farhadi einer der wenigen iranischen Künstler ist, der in der Diaspora wie auch zu Hause im Iran die Filmsprache der Gegenwart weiter entwickelt, wird aber auch über die Botschaften diskutiert, die möglicherweise über sein Land machen könnte. Gibt es sie?
Die vielen Wahrheiten der Vergangenheit
Im Kern des Films steht ein Beziehungs-Betrug, eine Frau zwischen zwei Männern. In Paris. Auf den ersten Blick eine französische Suche nach Wahrheit, wie sie sich auch bei uns in jeder Patchwork-Familie abspielen könnte. Dennoch ist die Suche nach der Vergangenheit Farhadis grösseres Thema. Er schildert eine Auffassung der Vergangenheit, die sich aus ganz unterschiedlichen Wahrheiten bildet. Je nachdem, wer sie zusammensetzt, steckt hinter jeder Wahrheit letztlich eine andere Vergangenheit.
Ahmad besucht seine Frau Marie in Paris, um einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Die gescheiterte Ehe soll geschieden werden. Als die beiden sich auf dem Flughafen wiedersehen, verstehen sie sich noch gut – von Panzerglas getrennt. Erst als sie auch hören, was sie sich zu sagen haben, fangen die Missverständnisse an. Zwar wäre mit einer Unterschrift unter den Scheidungsvertrag die Vergangenheit der Familie besiegelt. Aber wessen Wahrheit wäre nun gültig?
Jeder der Erwachsenen hat sich in «Le Passé» nämlich seine eigene Wahrheit zurechtgelegt. Durch Ahmads Besuch wird nicht nur die Geschichte von Marie neu aufgemischt. Zu Hause bei Marie meldet sich auch die fleischgewordene Vergangenheit der beiden zu Wort – die Kinder. Bald ist es für alle Beteiligten unmöglich, in ihrer gemeinsamen Vergangenheit weiter zu leben.
Die Kinder sind die Zukunft dieser Vergangenheit
Erst einmal äussert Maries kleiner Sohn Fouad sich widerborstig: Er weigert sich, für einen kleinen Faux-Pas um Verzeihung zu bitten. Tochter Lea spielt Streiche, für die sie sich zu rasch entschuldigen möchten. Die pubertierende Tochter Lucie bringt schliesslich erste Meinungsverschiedenheiten in der Vergangenheitsauffassung des Paares an den Tag: Lucie versteht sich mit ihrer Mutter nicht mehr. Dass sie nur noch zum Schlafen nach Hause kommt, verrät sie Ahmad, nicht aber ihrer Mutter.
Mit sicherer Hand nähert sich Farhadi seinem grossen Thema: Wenn hinter jeder Wahrheit mehrere Vergangenheitsauffassungen lauern, wird auch jede Schuld von einer anderen Wahrheit geprägt: die Kinder schütten den Farbeimer um (der für den Neubeginn Marias mit ihrem neuen Verlobten Samir steht), und wollen es gar nicht gewesen sein. Fouad trommelt wütend gegen die Tür und muss sich dafür entschuldigen. Immer wieder müssen die Kinder um Verzeihung bitten. Als wäre der Schuldvorrat unerschöpflich.
Es ist dieses « Verzeihung für Schuld» – Muster, das sich durch den Film zieht: Kleine Missgeschicke werden durch kleine Entschuldigungen gerade gebogen. Grosse Missgeschicke fordern grosse Entschuldigungen. Aber was fordern Lügen, Betrug und Unaufrichtigkeiten die zu einem Selbstmord führen? Befreien da Schuldeingeständnisse von Schuld? Erfordert ein Schuldeingeständnis nicht erst – eine gemeinsame Vergangenheit? Kann eine Entschuldigung nur dann gelten, wenn der Beschuldigte und der Betroffene sich über die Vergangenheit der Schuld einig sind?
Schuld und Verzeihung
Nach und nach bringen die Kinder dabei die Puzzleteile der jungen Vergangenheit an den Tag: Ahmad erfährt von Maries Ziehsohn, dass in Maries Wohnung ein Mann lebt, Samir. Auch Samir erfährt erst durch die Kinder, dass der Ex seiner in Maries Wohnung schläft. Ahmad wiederum erfährt von Lucie, dass Samir, mit Marie verlobt ist, aber mit einer anderen Frau verheiratet, die im Koma liegt. Bald befindet sich Ahmad wie ein Kriminalist auf der Spur all der Wahrheiten, deren Vergangenheit auch auf seiner eigenen beruht: Trägt auch er Schuld am Selbstmordversuch von Ahmads Gattin?
Wie ein Krimi spielt sich die Suche nach der Wahrheit ab. Die Fahnder sind allerdings in eigener Sache tätig: Das verstellt den Wahrheitssinn: Wie kam der Fleck ins Kleid, der die tragischen Ereignisse in Gang gesetzt hat? Wer muss sich für die Lüge entschuldigen? Welche Konsequenz hatte das Verschweigen der Wahrheit?
Die Erwachsenen kämpfen in «Le Passé» hilflos um Schuldeingeständnisse – der anderen. Das Trio ringt um eine gemeinsame Wahrheit: Ahmad, der Exmann und Vater. Marie, die Exfrau, Verlobte und Mutter. Samir, der Verlobte Maries (und Nochgatte). Jeder der drei ringt um seine eigene Wahrheit für den Selbstmordversuch. Erst Ahmads Fragen zerreissen langsam das Lügengeflecht.
Der Fleck aus der Vergangenheit verschwindet nicht
Dabei erweist sich Farhadi als gewiefter Moralist ebenso, wie als verspielter Kriminalist: Während er uns Schritt für Schritt näher zur Wahrheit führt, lockt er uns in Irrwege, wie in einem Spiegelkabinett. Dabei erzeugt ausgerechnet der gedämpfte Kammerton der Erwachsenen eine zunehmend explosive emotionale Mischung.
Die Wahrheit drängt nämlich unaufhaltsam an den Tag: Die Geheimnisse der Vergangenheit werden gelüftet, aber nicht von den Erwachsenen selbst, sondern – oft unfreiwillig, oder gar boshaft – von den Kindern. Erst ganz am Schluss von «Le Passé» wird klar, dass es den Kern der Wahrheit (die für alle gültige wäre) ebenso nicht gibt – wie den alleinigen Schuldigen: Die vierte im Bunde bleibt stumm. Samirs Gattin, die seit Monaten im Koma liegt, und das eigentliche Opfer der Missverständnisse ist, bleibt weiterhin unansprechbar. Oder eben vielleicht auch nicht: Vielleicht ist auch ihr Schweigen ihre Botschaft.
Wieder ist Farhadi einer der besten Filme des Jahres geglückt
«Le passé» ist in erster Linie ein phänomenal heutiger Film: Die Familie, bei der wir zu Gast sind, setzt sich aus mindestens sechs Familien zusammen: Ein Patchwork-Puzzle, wie wir es von überall kennen. Die Kinder Maries sind es längst gewohnt, dass die Männer, die sich Vater nennen, auch bald wieder gehen. Auch die Eltern spielen ihre Rolle in der Familie neu, überraschend, in einem improvisierten Regelwerk. Die Kinder fordern von ihnen Trennungen oder erwarten Versöhnungen oder wollen schlicht, dass sie die Familie verlassen.
Farhadi ist in zweiter Linie ein grandioses Zeitdokument einer sterbenden Moral geglückt: Wenn die Regeln von Familie in «Le Passé» neu gelebt werden, ohne dass sie eingehalten werden müssen, entstehen nicht nur Freiräume: Es entstehen auch Schuldräume: Kinder leben längst nicht so locker und schuldgefühlsfrei mit Trennungen wie ihre Eltern. Doch die Wahrheit ist nicht immer das beste Heilmittel für ein Schuldgefühl. Selbst die Verzeihung reicht da nicht hin.
Drittens bietet Farhadi psychologische Feinkost an: Immer wieder schafft er Bilder, die uns Paris vergessen lassen. Die Regeln des Zusammenlebens werden in Maries Wohnung viel allgemeingültiger neu erfunden. Wenn auch alle Beteiligten sich darüber noch nicht so ganz im klaren sind, wo es langgehen soll. Mal ist der Ex-Mann der Heimspieler, mal ist der neue hier zu Hause, mal sind sie auch beide gleichzeitig da: Der eine kocht. Der andere malt. Der eine repariert den Ausguss, der andere die Lampe. Mal helfen sich beide Männer in Maries Wohnung gegenseitig. Mal ist der Neue nur das Ebenbild des Alten, nach dem Marie immer noch sucht, wie die Tochter scharfsichtig bemerkt.
Viertens lädt Farhadi aber auch zu einem verrätselten Spiegelkabinett ein: Man könnte die Frau im Koma als eine Metapher für die im Sterben liegende iranische Kultur werten. Man könnte das ganze Beziehungsnetz rund um die Lebensmüde durchaus als die grosse Iranische Kultur-Familie sehen, die sich um eine Zukunft mit einer Vergangenheitsbewältigung im eigenen Land drückt. Der Iran ist ein Land, das zur Zeit nur eine Vergangenheit kennen darf, die niemand aussprechen will. Man könnte auch darauf hinweisen, dass erst die Kinder die Wahrheiten an den Tag bringen werden.
Farhadi selber will die Bezüglichkeit so deutlich nicht herstellen: Ganz am Schluss steht ein Bild. Ein Händedruck in der Intensivstation, der wieder auf den Anfang verweist. Dort verstanden sich zwei Menschen, die sich nur sehen konnten. Jetzt können zwei Menschen sich nicht hören. Samir hält, nachdem er sein Parfum auf der Intensivstation versprüht hat, die Hand seiner Frau. Vielleicht kann sie ihn wenigstens riechen? Es bleibt die Hoffnung, sein Duft könnte sie wenigstens erreichen. Das Bild weckt Hoffnung: Dass Vergangenheit und Zukunft sich eins die Hand geben können.