Lebe lieber abgeranzt

Neukölln ist weder schön noch besonders vielfältig oder interessant. Erst recht nicht um diese Jahreszeit. Eine Reise in den Berliner «Problembezirk» lohnt sich trotzdem.

Rutschen mit Blick auf Brandschutzmauer.

Neukölln ist weder schön, noch besonders vielfältig oder interessant. Erst recht nicht um diese Jahreszeit. Eine Reise in den Berliner «Problembezirk» lohnt sich trotzdem.

Es gibt wenig Schlimmeres, als den Winter in Berlin zu verbringen. Anders als im Sommer, wo grüne Parks, Freiluftpartys und ein hinreissender Kanal zum Verweilen einladen, ist Berlin im Winter eine graue Einöde, wo bösartige Winde durch die matschig-verschneiten Strassen peitschen und die Bewohner noch schlechter drauf sind als sonst.

Wer trotzdem hinfährt, dem bleiben als Massnahmen nur Feiern und Essen. Und das geht nirgends so gut wie in Neukölln. Der Kiez im Südosten der Stadt ist nämlich genau so, wie man sich Berlin als junge Besucherin wünscht: nicht so wie Prenzlauer Berg. Keine hochnäsigen Hipster, die am Wochenmarkt Schneeglöckchensträusse kaufen, keine Bionade trinkenden Szene-Eltern, keine pseudo-verlebten Bars.

Ferien für Zyniker

Nein, Neukölln ist noch authentisch abgeranzt. Hier wohnen Sozialfälle, Migranten, arme Studenten und mittellose Künstler, und wer einen gesund-zynischen Verstand hat, der wird hier eine wundervolle Zeit haben. Schliesslich hat man sich dank der Gleichung 1 Franken = 1 Euro soeben als Rich Kid in einem Stadtteil Berlins niedergelassen, dessen Bibliothek als Drogenumschlagplatz missbraucht wird. Eine Bibliothek!

Wer nicht bei Freunden unterkommt, soll im Hüttenpalast übernachten, einem Indoor-Campingplatz, wo man wahlweise im Schneewittchen, Herzensbrecher oder Dübener Ei schlafen kann – alles Wohnwagensorten, die hübsch hergerichtet in einer alten Fabrikhalle stehen. Zum Abendessen gehts zu Ziegenfrischkäse-Fettuccine in die zehn Minuten entfernte Nudelbude, die sympathischste Pastamanufaktur Neuköllns. Nach dem Essen folgen ein paar Biere in den zahlreichen Spelunken um die Weserstrasse herum. Wers gerne urban hip mag, geht ins «Ä», wo garantiert irgendein schnuckliger Singer-Songwriter auf der Gitarre rumklimpert.

Am Fotoautomaten kann man für ein paar Euros alte Passfoto-Zeiten aufleben lassen.

Am Fotoautomaten kann man für ein paar Euros alte Passfoto-Zeiten aufleben lassen.

Für die volle Ladung Neukölln gibts das «Wesereck», wo ein grosses Bier etwas über zwei Euro kostet und die Bardame Petra in schönstem Berlinerisch ihre Kundschaft anmotzt. Wer sich für unter zehn Euro einen Rausch angetrunken hat, läuft zum Club Loophole und tanzt sich in den dunklen Gemäuern zu einem lokalen DJ einen schönen Berliner an. Am nächsten Tag verbringt man den Morgen mit Brunchen bei «Fatma & Frieda» an der Reuterstrasse, hier gibts vom Müesli bis zu den Süsskartoffeln auf Vollkorntoast alles, was das Frühstücksherz begehrt.  

Später schlendert man die Weserstrasse runter, holt sich bei «Jakoub» an der Weserstrasse 15 einen frisch zubereiteten Falafel und setzt sich ein paar Häuser weiter (Weserstrasse 6) in den alten Passfoto-Automaten, um für ein paar Euro in den Neunzigern zu schwelgen.


Danach trödelt man die Karl-Marx-Strasse runter und holt sich in einem der zahlreichen 1-Euro-Shops ein Souvenir (Schlüsselanhänger, Tischtuchklammern, Spülbürsten, you name it). Später geht man auf eine Partie Bridge in die alte Fleischerei «Gelegenheiten» und – einmal gegen die eingefleischten Bridge-Tanten verloren – ins «Fuks», ein kuschliges Wohnzimmer, das sich als Bar tarnt, inklusive Cheminée und Couch-Garnitur. 

Am Sonntag ist Flohmarkt am idyllischen Maybachufer angesagt (vorher auf der Website schauen, ob er auch wirklich stattfindet). Bei schlechtem Wetter unbedingt ins zauberhafte Nostalgiker-Kino «Neues Off» oder ins schönste Schwimmbad Berlins, das hundertjährige Stadtbad Neukölln. In der Kräutersauna der russisch-römischen Badeanlage löst sich der Grossstadt-Ranz der letzten Tage in wohlriechenden Dampf auf – und der Berliner Winter ist vergessen.

In der Ä-Bar klimpern hübsche Singer-Songwriter.

In der Ä-Bar klimpern hübsche Singer-Songwriter.


Unbedingt: Mindestens einmal mit Gentrifizierungswissen prahlen: «Kreuzberg war ja das neue Prenzlauer Berg, dann kam Neukölln und später Wedding. Also Wedding ist doch irgendwie eigentlich immer noch nicht vorbei. Und da ist ja auch noch Moabit, das neue Kreuzberg, also Neukölln beziehungsweise Wedding.»

Gerne: Berliner Nationalgetränk «Club Mate» mit Wodka bestellen und so viel vortrinken, dass ganz viel Wodka reinpasst (wers bestellt, wird dann schon sehen, was damit gemeint ist).

Auf keinen Fall… …auf dem Fahrradstreifen laufen. Sieht aus wie ein Trottoir, ist es aber nicht. Die Folgen sind verheerend, ihr wurdet gewarnt.

 

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